Erzbischof von Bagdad: Die Menschen müssen ihren Sinn für den Staat wiederentdecken
Und dennoch, die Situation ist „kompliziert“, sagt im Gespräch mit Radio Vatikan der lateinische Erzbischof von Bagdad, Jean-Benjamin Sleiman. Er selbst traue den Demonstrationen, die sich gegen die irakische Elite und den Einfluss iranischer Kräfte im Land richten, nicht so recht über den Weg, halte sie für ferngesteuert, so die beunruhigende Analyse des Geistlichen, der bereits seit zwei Jahrzehnten Erzbischof der irakischen Hauptstadt ist.
„Ich habe in meinem Leben viele ähnliche Dinge erlebt, und ich glaube nicht an die Unschuld der Demonstrationen“, unterstreicht der Erzbischof ohne Umschweife. „Dass es unschuldige Menschen gibt, dass es in diesem Land viel Ungerechtigkeit gibt, sicherlich. Aber dass Demonstrationen auf diese Weise spontan entstehen, glaube ich nicht.“ Er selbst nehme aus diesem Grund nicht an den Demonstrationen teil, obwohl zahlreiche der erhobenen Forderungen sicherlich ihre Berechtigung hätten, so der Geistliche: „Die Menschen brauchen Gerechtigkeit, sie brauchen einen anderen Staat, einen Staat, der ihre Angelegenheiten leitet, der ihre Probleme löst, aber die eingesetzten Mittel helfen nicht zum Erreichen dieses Ziels. Es ist ein Machtkonflikt zwischen Fraktionen, die mehr oder weniger sichtbar sind und die die Fähigkeit haben, viele Menschen, unschuldige Menschen, zu mobilisieren. Menschen sind vielleicht unschuldig, aber die Situation ist alles andere als unschuldig.“
Es liege auf der Hand, dass im Irak verschiedene Mächte ihre Interessen verteidigten, betont der Erzbischof, ohne Namen zu nennen. Seit 2003, dem Sturz Saddam Husseins, hat sich die Machtstruktur im Land nicht geändert, auch der Einfluss Irans wird kritisch beäugt und sorgt für Unmut. Dem mächtigen Nachbarn wird vorgeworfen, das politische System zu unterstützen, das von Klientelismus und Korruption geprägt ist. Erst an diesem Montag haben die Vereinigten Staaten, bekanntermaßen dem Iran nicht gerade freundlich gesinnt, die irakische Führung dazu aufgerufen, die Gewalt zu beenden und Neuwahlen abzuhalten – ein Appell, der teilweise in Einklang mit den Wünschen der Demonstranten steht. Zwar sei es positiv, dass die politischen Akteure sich darauf geeinigt hätten, die Auseinandersetzung ruhen zu lassen – doch konkret hätte sich noch keine Verbesserung der Situation gezeigt, betont Sleiman.
„Ich denke, alles, was den Konflikt beenden kann, ist gut, aber ich weiß nicht, worüber sie sich konkret geeinigt haben. Einfach nur die Dinge zu stoppen, wird nicht ausreichen, denn ich glaube, dass es Veränderungen geben muss, und ich hoffe, dass sie nicht nur symbolisch sein werden.“
Insgesamt sei die Gemengelage bei den Konflikten im Nahen Osten hoch kompliziert, gibt der Erzbischof zu bedenken. Nicht immer zeigten die Konfliktparteien dabei offen ihr Gesicht. Doch eines liege für ihn auf der Hand: „Diejenigen, die diese Demonstrationen wirklich gefördert haben oder sich ihnen widersetzen, haben das Wohlergehen des irakischen Volkes nicht im Blick. Es handelt sich um einen großen Kampf zwischen regionalen und internationalen Mächten, und letztendlich geht es um Ressourcen und strategische Standorte. Wir können nicht trennen zwischen dem, was im Jemen geschieht, und dem, was im Irak geschieht, was in Beirut geschieht, was in Syrien geschieht, und den Versuchen, in Ägypten Unruhe zu stiften…“
Es brauche Übereinkommen zwischen den tatsächlichen Strippenziehern, um wirklich für eine Verbesserung der Situation zu sorgen, so der Erzbischof von Bagdad, der andernfalls eine prekäre Situation am Horizont heraufziehen sieht: „Diejenigen, die wirklich leiden und Ungerechtigkeiten ausgesetzt sind, verdienen es, besser behandelt zu werden als durch eine Scheinlösung à la ,Heute hören wir mal auf, vielleicht ändern sich die Dinge in zwei oder drei Monaten, wir fangen von vorne an…‘: All das ist ein bisschen eine Verhöhnung der Menschen, und wir sind es gewohnt, in dieser Region veräppelt zu werden. Wir sind wirklich sehr enttäuscht über alles, was in den letzten Jahren passiert ist. Vielleicht wird der Herr ein Wunder vollbringen, denn nur Er kann diese Situation ändern.“
Die derzeitige ernste Lage komme allerdings nicht allzu überraschend, räumt der Erzbischof ein. Denn seit Jahren herrsche Unzufriedenheit, und auch der irakische Staat selbst sei aus vielen kleineren, regionalen Gebilden zusammengestückelt worden. Damit einher gehe, trotz vieler Fortschritte, die in den letzten Jahren gemacht wurden, eine nach wie vor starke Stammesbindung: „Es ist noch kein echter Rechtsstaat, die Befugnisse liegen nicht immer in den Händen des Staates,“ erläutert Sleiman. „Was man sieht, ist ein bisschen wie die Spitze des Eisbergs. Es ist sehr einfach, ein solches Land zu infiltrieren und zu erschüttern; da es keine wirklich starke Einheit gibt, sucht kulturell gesehen jeder nach seinem eigenen Interesse: Sie können heute Freunde sein, morgen Feinde, dann wieder Verbündete werden, und so weiter…“
Dem aus der Diktatur geretteten Staat müsse dabei geholfen werden, in die Moderne einzutreten, so der Appell des Kirchenmannes. Dafür sei es insbesondere notwendig, den Staat als eine Institution zu verstehen und zu vermitteln, „die für jede menschliche Gesellschaft wirklich unverzichtbar ist“: „Mein Traum ist, dass wir eines Tages ernster werden können, dass wir den Irakern vor allem dabei helfen können, ihren staatsbürgerlichen Sinn wiederzuerlangen, mit anderen Worten das Bewusstsein dafür, dass jeder Iraker den anderen Irakern gleichgestellt ist, dass er also die gleichen Rechte und Pflichten hat - und ich unterstreiche das Wort ,Pflichten‘, weil wir immer über Rechte sprechen, aber nicht immer über Pflichten.“
Der Krieg habe viele Wunden hinterlassen, gibt der lateinische Erzbischof von Bagdad noch zu bedenken. Darunter sind psychologische Spätfolgen, aber auch handfeste soziale Probleme wie verwaiste und verlassene Kinder, verwitwete Frauen und andere: „Es gibt ein Sprichwort - ich weiß nicht, ob es libanesisch oder arabisch ist -, das besagt: ,Wenn eine Kuh fällt, vermehren sich die Metzger‘. Der Irak ist ein Land, das viel von seiner Souveränität, seiner Integrität verloren hat, und deshalb kann es sich nicht allen Herausforderungen stellen, die von nah und fern kommen, auch aus den Nachbarländern...“ Denn, so führt Sleiman aus, die Nachbarländer seien ihrerseits wieder mit anderen, größeren, Ländern verbunden. Und diese mögen zwar geografisch weit entfernt sein, seien aber „vor Ort auf die eine oder andere Weise sehr präsent“: „Ich leide, wie viele andere auch, unter diesem Unverständnis, der Spaltung, der Ungerechtigkeit und diesem wirklich ungerechtfertigten Wettlauf um Ressourcen, eben weil er nicht notwendig wäre. Aber für diejenigen, die dabei mitmachen, gibt es keine Grenzen.“
(vatican news - cs)
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