Jemen: „Die Situation bleibt dramatisch“
Radio Vatikan: Bischof Hinder, wir hören bei uns im Westen immer weniger aus dem Jemen… Wie schätzen Sie die aktuelle Lage im Jemen ein?
Paul Hinder: Die Menschen, mit denen ich am Telefon spreche, können nicht offen reden. Die Situation ist und bleibt nach wie vor dramatisch, auch wenn es sicher in vielen Teilen des Landes eine gewisse Beruhigung gegeben hat. Auch die Attacken sind ja zurückgegangen.
Aber das ändert nichts an der Situation, dass vor allem jene Bevölkerungsschichten, die am meisten gelitten haben unter dem Krieg, nach wie vor unter Krankheit und Hunger leiden. Die Versorgung ist nicht gewährleistet. Das sanitäre System ist zum Teil im Krieg zerstört worden und noch nicht wieder aufgebaut. Die Lebensmittel, die medizinischen Mittel gehen nicht unbedingt dorthin, wo sie am meisten gebraucht werden – was zum Teil mit den Blockaden zu tun hat, zum Teil mit Korruption.
Tragisch ist, dass niemand fähig zu sein scheint, einen richtigen Fortschritt zustande zu bringen in den Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien.
Radio Vatikan: Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass man fast keinen Überblick hat, wer hier gegen wen kämpft.
Paul Hinder: Da müssen Sie sich nicht schämen in Rom. Das geht sogar mir so. Und ich denke, sogar im Land selber. Da sind so viele politisch divergierende Interessen, so viele verschiedene Schichten, so viele Stämme, dass es schwierig ist, eine Übersicht zu bekommen. Es ist eine hochkomplexe Situation. Als Schweizer sollten wir aus unserer eigenen Geschichte wissen, wie verschieden divergierende Interessen in einem kleinen Raum sein können in einer gebirgigen Welt.
Das ist im Jemen ähnlich – von Tal zu Tal ist es verschieden. Im Jemen kann niemand einen Krieg gewinnen, weil das Land schon in der Topografie so komplex ist. Da kann man sich keine Hoffnungen machen, irgendwo einen entscheidenden Durchbruch zu haben. Ich sehe nur eine Lösung, wenn die Menschen sich zu einem Kompromiss zusammenfinden, bei dem niemand das Gesicht verliert.
Eine dieser Ebenen ist die religiöse Ebene. Kann sie eine aktive Rolle dabei spielen, eine Lösung zu finden?
Paul Hinder: Ich denke schon. Die Menschen vor Ort haben ja nicht nur Krieg im Sinn, es geht auch darum, den Frieden innerhalb der Umma, der islamischen Gemeinschaft, wieder herzustellen. Ich denke, dass es durchaus auch Kräfte gibt, die es ernst meinen mit den friedensfördernden Maßnahmen. Es wäre ganz gewiss falsch, dass Islam automatisch Gewalt, Krieg und so weiter meint – wiewohl das in der Geschichte auch ein Aspekt gewesen ist.
Die Fragen stellte Mario Galgano. Bearbeitung des Interviews: Ines Schaberger.
(vatican news)
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