Beter am 6. Januar in der Geburtskirche Jesu in Betlehem/Palästina Beter am 6. Januar in der Geburtskirche Jesu in Betlehem/Palästina 

Experte: Christentum verliert im Nahen Osten seine Wurzeln

Die Christenheit weltweit sollte es als ihr dringendes Anliegen erkennen, dass in den Ländern des Nahen Ostens auch in Zukunft Christen leben können und Perspektiven haben: Das hat der Ostkirchenexperte Dietmar Winkler gefordert.

Israel und seine Nachbarstaaten seien die „Wiege des Christentums“, betonte der Salzburger Professor für Patristik und Kirchengeschichte im Interview mit der „Tagespost“. „Wenn die Wiege leer wird, wenn das Heilige Land zur bloß touristischen Destination wird, dann verlieren wir Christen weltweit unsere Wurzeln. Eine Pflanze ohne Wurzel wird verdorren“, mahnte Winkler.

Derzeit finde tatsächlich ein „Exodus“ der Christen aus den Ländern der Bibel statt, der zu ihrem völligen Verschwinden führen könne, sagte der Experte. Besonders treffe dies auf Syrien und den Irak zu, in Ägypten sei die Lage halbwegs stabil, während in Israel und Palästina die Zahl der Christen zwar stabil bleibe, in Relation aufgrund einer geringeren Geburtenrate als bei Juden oder Muslimen jedoch zurückgehe, beschrieb Winkler, der Vorstandsmitglied der Stiftung Pro Oriente ist, die derzeitige Situation.

Über Exodus der Christen braucht man sich nicht zu wundern

Verwunderlich sei die massenhafte Emigration nicht, erklärte der Experte für Ostkirchen: „Welche Zukunft haben ausgebildete Leute im eingemauerten Westjordanland? Oder was machen sie im Irak, wenn sie gut ausgebildet sind, aber keine Arbeit finden?“ Die orientalischen Christen suchten im Westen nicht nur wirtschaftliche Vorteile, „sondern auch Frieden, Stabilität und ein Gedeihen für ihre Familie, ein Umfeld, in dem Kinder aufwachsen können“. Hingegen hätten sie zuhause, wo sie schon seit dem 7. Jahrhundert als Minderheit lebten, eine zerstörte Infrastruktur, Unsicherheit und teilweise Kriegssituationen.

Dabei stellten die orientalischen Christen mit ihren verschiedenen Traditionen einen „großen Reichtum“ dar und „zeigen, dass das Christentum stets plural gewesen ist“: Schließlich habe es von Anfang an in die syro-aramäische, koptische, griechische, armenische, lateinische, indische und äthiopische Kultur hineingewirkt, erklärte Winkler. „Das Christentum ist die Religion, die sich in allen Kulturen widerspiegeln kann.“ Von hoher Bedeutung sei auch das vom äußeren Druck beförderte gemeinsame Zeugnis, etwa durch überkonfessionelle Zusammenarbeit bei der Caritas. Die Mehrheit der Christen im Orient identifiziere sich nicht über die Konfession, sondern als Christen.

„Wer soll den Muslimen helfen, aus der Spirale des Fundamentalismus herauszukommen, wenn nicht die Christen?“

Für die gesamte Christenheit sei das von den Christen des Nahen Ostens bewahrte Erbe wichtig, unterstrich der Kirchenhistoriker, der fortfuhr: „Wenn man nicht mehr in der Heimat präsent ist, sondern nur mehr in der Diaspora, wird dieses Erbe sich verändern. Um es pointiert zu formulieren: Entweder wird alles ganz eng und konservativ bewahrt, was eine Integration in die Gastkultur verhindert, oder es kommt die totale Assimilation, wodurch das orientalische Erbe verloren geht.“

Für die muslimische Mehrheit in den arabischen Ländern seien die Christen ein zumeist auch als solcher anerkannter „wesentlicher Faktor in der Gesellschaft“, aufgrund ihres Engagements wie etwa in der Schulbildung, betonte Winkler. „Wer soll den Muslimen helfen, aus der Spirale des religiösen Fundamentalismus herauszukommen, wenn nicht die Christen?“ Es sei eine „besondere Qualität des Christseins, aus dem Glauben heraus für den Nächsten da zu sein“, oder, religiös formuliert, „Salz für die Erde“ zu sein.

Christliche Ghettos sind nicht die Lösung

Winklers Forderung: Europa müsse sich neben der Unterstützung der Christen im Nahen Osten politisch für eine Verbreitung seines Modells einer „echten Gewissens- und Religionsfreiheit“ einsetzen. Diese sollten auch für Jesiden, Drusen, oder auch - je nach Staat - für schiitische beziehungsweise sunnitische Minderheiten gelten, gebe es doch auch für Muslime im Orient keine Religionsfreiheit: „Sie dürfen weder konvertieren noch sich dafür entscheiden, nicht zu glauben.“

Für die Christen seien nicht die Errichtung von Ghettos die Lösung, sondern „echte Bürgerrechte“. Winkler abschließend: „Das eigentliche Problem ist nicht der Islam, sondern der Fundamentalismus, der die Religion für politische Zwecke instrumentalisiert.“

(kap – sk)
 

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08. Januar 2020, 11:30