Frankreich: Notre Dame und der langsame Wiederaufbau
Adélaïde Patrignani und Christine Seuss - Vatikanstadt
Wenige Stunden genügten, um einen großen Teil des weltberühmten Gebäudes zu Asche zu verwandeln, das in mehr als zwei Jahrhunderten, von 1163 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, von talentierten Handwerkern und Arbeitern errichtet wurde, deren Geheimnisse immer noch nicht vollständig entschlüsselt sind.
In genau fünfzehn Stunden zerstörten die Flammen das Dach, das Fachwerk aus dem 13. Jahrhundert, die berühmte Turmspitze von Viollet-Le-Duc und einen Teil der Gewölbe des zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Monuments. Das Feuer brach am Abend des 15. April aus und konnte erst am folgenden Morgen dank des unermüdlichen Einsatzes von rund 600 Feuerwehrleuten gelöscht werden. Die ganze Welt verfolgte über die Medien voller Bestürzung, wie die apokalytisch erscheinenden Flammen das berühmte Gebäude zerstörten. Nicht nur die Bilder der brennenden Kathedrale, sondern auch diejenigen der rund um das Gebäude knienden Pariserinnen und Parisern, oft junge Leute, die „glaubten wider alle Hoffnung" und in diesen beängstigenden Stunden unablässig beteten, werden den Menschen noch lange im Gedächtnis bleiben.
Zahlreiche Interessen kollidieren miteinander
Noch in der Nacht des Brandes hatte der französische Präsident Emmanuel Macron angekündigt, dass Notre-Dame in fünf Jahren wieder aufgebaut werden sollte. Doch die Arbeiten waren wegen der Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem Coronavirus getroffen wurden, seit Mitte März zum Stillstand gekommen. Auch die Ursachen des Brandes sind nach wie vor nicht genau geklärt, und die polizeilichen Ermittlungen dauern an. Der Wiederaufbau erweist sich als sehr komplex und bringt wirtschaftliche und architektonische, aber auch politische und religiöse Fragen mit sich, die manchmal zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen.
Der Priester Benoist de Sinety ist Generalvikar der Erzdiözese Paris. Er erläutert im Gespräch mit Radio Vatikan, was für eine Bedeutung die Kathedrale für ihn ganz persönlich, aber auch für die Pariserinnen und Pariser hat.
„Die Kathedrale repräsentiert für mich den Ort, an dem ich zum Priester geweiht wurde, und damit einen Ort, dem ich zwangsläufig sehr verbunden bin. Wissen Sie, die Menschen hängen sehr an der Kirche, in der sie geheiratet haben, in der sie ihre Kinder getauft haben... Für mich ist es der Ort, an dem die großen Stunden meines christlichen Lebens gefeiert wurden, es ist also ein wichtiger Ort.“ Doch die Kathedrale im Herzen von Paris bilde auch „den Glauben der Christen an Gottes Liebe zu allen Menschen“ ab, betont der Generalvikar. „Beim Wiederaufbau dieser Kathedrale stellt sich also für die Christen von Paris auch die Frage, wie sie auch ihr eigenes Leben gestalten wollen, damit diese Kirche diese Gegenwart und Verheißung der Liebe Gottes besser darstellen kann. Wir können Steine und Schutt nicht wieder aufbauen, wenn wir nicht auch bereit sind, unser persönliches und gemeinschaftliches spirituelles Leben wieder aufzubauen, so dass es im Einklang mit dem steht, was der Stein zum Ausdruck bringt.“
Grundlegender Moment eines Wiedererstarkens des Evangeliums?
Er selbst denke, dass durch das Fehlen der Kathedrale in der Stadt ein ganz neues Gefühl der Geschwisterlichkeit unter den Pariser Gläubigen gewachsen sei, so de Sinety, der seit 2016 Generalvikar der Hauptstadtdiözese ist. „Die Tatsache, dass die Kathedrale heute im liturgischen, sakramentalen und spirituellen Leben der Christen von Paris fehlt, zeigt letztlich noch mehr, wie bedeutend sie ist. Wir fangen an, das wahrzunehmen, was wir früher als Normalzustand ansahen - wir haben eine sehr schöne Kathedrale, wir sind sehr stolz darauf... Wissen Sie, die Pariser sind immer ein bisschen stolz auf sich und ihre Stadt - nun, darum geht es im Leben nicht. Das zwingt uns also wieder einmal dazu, über das Zeugnis nachzudenken, das wir von uns selbst ablegen wollen. Ich denke, dass die Historiker vielleicht diesen Moment in einigen Jahren paradoxerweise als einen grundlegenden Moment einer Erneuerung des Einflusses des Evangeliums in Paris sehen werden.”
Keine Messen, aber Momente des stillen Gebets
Weltweit habe er sehr viel Solidarität und Anteilnahme in der Zeit nach dem Brand erfahren, berichtet der Generalvikar. Diese habe sich durchaus nicht nur auf spirituelle Solidarität beschränkt, sondern auch zahlreiche konkrete Hilfsangebote sowie finanzielle Spenden für den Wiederaufbau seien in der Diözese eingegangen. „All dies bringt uns einander tatsächlich näher; das ist die positive Seite, wir sind gezwungen, tiefere Bande zu weben, die uns miteinander verbinden. In den Zeiten der heutigen Pandemie sind die Kirchen in Paris, wie in vielen anderen Diözesen Frankreichs, offen geblieben, auch wenn es im Inneren keine Feiern mehr gibt, die die Gläubigen versammeln. Und die Pfarrer, mit denen ich regelmäßig telefoniere, sagen mir, dass es natürlich keine Versammlungen gibt, aber die Menschen kommen, um in den Kirchen einen Moment des Gebets und der Meditation zu verbringen, der ihnen dabei hilft, den Mut zu finden, diese ganz besonderen Tage zu leben, die wir alle kennen - oder die zumindest ein Gutteil der Menschheit heute kennt.”
Unterbrechung der Renovierungsarbeiten
Die Arbeiten an der Kathedrale mussten wegen der Corona-Pandemie eingestellt werden, als die Konsolidierung des Gebäudes noch nicht vollkommen abgeschlossen war, erinnert der Generalvikar mit Blick auf den Wiederaufbau, der nur äußerst schleppend wieder anläuft - erst an diesem Montag konnten die Bauarbeiten unter Beachtung zahlreicher Schutzvorschriften wieder aufgenommen werden. Zwar sei das Gebäude gut abgestützt und alles sei soweit an Ort und Stelle, doch das mehrere hundert Tonnen schwere Gerüst um den Dachreiter habe noch nicht entfernt werden können. „Ein Jahr nach dem Brand ist es immer noch da, aber das Gebäude ist ausreichend konsolidiert, so dass keine allzu großen Risiken bestehen. Nach diesem Abbau sollten weitere Schritte erfolgen, die nun natürlich verschoben werden mussten.“
Ab diesem Montag sind nun einige Fachleute wieder auf der Baustelle präsent, um die kommende Phase einzuleiten. Erklärtes Ziel der französischen Behörden ist es, die Baukräne ab dem kommenden 4. Mai wieder in Betrieb zu nehmen. Inwieweit sich der Wiederaufbau nun insgesamt verzögern wird - das ist momentan kaum abzuschätzen.
(vatican news)
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