Notstandsgesetz in Ungarn: Ein Interview
Das Gesetz war am Dienstag kraft der Zweidrittel-Mehrheit der Regierungspartei Fidesz verabschiedet worden. Es ermöglicht der Regierung Orban unter anderem, den am 11. März verhängten Notstand zu verlängern. Volksbefragungen und Nachwahlen können in dieser Zeit nicht durchgeführt werden. Kritiker sehen darin einen schwerwiegenden Angriff auf den ungarischen Verfassungsstaat und machtpolitisches Kalkül. Der Europarat äußerte Bedenken, Rufe nach Sanktionen für Ungarn werden lauter.
Kann Corona das rechtfertigen?
András Máté-Tóth ist weniger besorgt. Das neue Gesetz sei schließlich allein auf die Pandemie-Krise bezogen, zeigt sich der Professor für Religionswissenschaft gelassen. Angesichts des Ausmaßes der Krise hält er eine solche Maßnahme für zeitweise gerechtfertigt. Im Interview mit Radio Vatikan spricht er über fehlendes Vertrauen in Ungarns Politik, die Sorgen der einfachen Leute und darüber, wie die katholische Kirche mit der Krise umgeht. András Máté-Tóth lehrt an der staatlichen Universität Szeged in Süd-Ungarn.
Radio Vatikan wollte von dem Professor zunächst einmal wissen, wo er denn den praktischen Nutzen der Maßnahme sieht...
Radio Vatikan: Herr Máté-Tóth, inwiefern soll dieser Schritt denn besonders dabei helfen, die Corona-Krise in Ungarn in den Griff zu bekommen? Hätte das nicht auch unter Beibehaltung der Kompetenzen des Parlamentes gehen können?
Máté-Tóth: Das neue Gesetz entmachtet das Parlament nicht grundsätzlich, es ist ein Paket von Sonderbestimmungen und Sonderrechten, nur bezogen auf den Umgang mit dieser Epidemie-Krise. Der Ministerpräsident oder die Regierung hat durch dieses Gesetz keine grenzenlose Macht bekommen und hat damit dem Parlament in Ungarn oder der Demokratie an sich kein Ende gesetzt. Das Interesse hinter den neuen Bestimmungen ist, dass man in der Krisenzeit schneller und direkter Entscheidungen treffen kann, als während der normalen Geschäftsführung des Parlamentes.
Radio Vatikan: Im betreffenden Text ist von einer Dauer der Maßnahmen „für den Zeitraum der Gefahr“ die Rede. Das hört sich vage an – wer entscheidet denn, wann die Gefahr vorbei ist?
Máté-Tóth: Zeitlich ist das nicht unbegrenzt. Wann man sagen kann, die Epidemie-Krise ist gelöst, ist an sich eine sehr große und komplizierte Frage, diese Frage ist auch in anderen Ländern nicht leicht zu beantworten. Ein politisches Problem kann sein, dass das Recht zu sagen, die Epidemie ist zu Ende, in den Händen der Regierung und nicht in den Händen des Parlamentes liegt... Also wird die ungarische Regierung ihre eigenen speziellen Rechte aufheben müssen, wenn die Regierung überzeugt davon wird, dass die Epidemie zu Ende sei und keine Sonderrechte für den Umgang mit dieser Krise nötig sind.
Radio Vatikan: Sie sehen also einen solchen Schritt aufgrund der Corona-Krise als gerechtfertigt an?
Máté-Tóth: Ich denke ja. Meiner Meinung nach ist es in dieser Zeit der Epidemie-Krise wichtiger, irgendwie einen Zusammenhalt und eine Synergie aller politischen Kräfte zu erzielen, als die ansonsten sehr wichtigen politischen Spannungen aufrecht zu erhalten.
Andere Länder gehen anders mit der Krise um
Radio Vatikan: Wenn wir uns einmal andere EU-Länder ansehen, die haben einen anderen Weg gewählt. Auch da wurden Grundrechte der Bürger teils eingeschränkt, allerdings haben die Parlamente ihre Kompetenzen bewahrt und die Ausnahmesituation ist zeitlich klarer begrenzt. Ungarn dagegen hat mit dem Notstandsgesetz eine recht extreme Maßnahme ergriffen...
Máté-Tóth: Also wie weit dieser Schritt in Ungarn als ein Extremschritt bezeichnet werden kann, dazu kenne ich nicht genügend die internationale Situation. Andererseits kann ich Menschen in und außerhalb von Ungarn verstehen, wenn sie diesen Schritt des Parlamentes oder der Regierung bezüglich Sonderbestimmungen als extrem bezeichnen. Es gibt in den letzten 10 Jahren einen großen Vertrauensverlust gegenüber der Regierung in Ungarn und auch in Europa. Und dieser Vertrauensverlust ist der Rahmen, in den man diese neuen gesetzlichen Bestimmungen stellt und aus dem man im Grunde heraus diese ganze Situation interpretiert.
Radio Vatikan: Wir können uns ja den Gesetzestext im Detail noch einmal ansehen. Für eine „Behinderung der Epidemie-Eindämmung“ sind Gefängnisstrafen zwischen ein bis fünf Jahren vorgesehen. Da geht es explizit um die Verbreitung „unwahrer oder falsch wiedergegebener Tatsachen“ und die Behinderung eines wirksamen Schutzes vor der Epidemie... Was muss man sich darunter vorstellen? Wenn ich als ungarische Journalistin zum Beispiel über Wucherpreise beim Maskenverkauf oder Versorgungslücken berichte, ist das schon eine Falschmeldung?
Máté-Tóth: Gott sei Dank werde ich so was nie entscheiden müssen und kann auch jetzt nicht sagen, was dann in Betracht gezogen wird als ein gesetzeswidriges Verhalten... (lacht) Ich weiß nicht, wie man das machen wird. Ich weiß allerdings, dass in Ungarn vor zwei Wochen ein Blogger festgenommen worden ist, der Falschmeldungen produziert hat über diese ganze Corona-Virus-Situation. Er wurde festgenommen, sein Facebook-Account annulliert oder eingefroren... aber das ist schon vor dem Notstandsgesetz passiert.
Was kommt jetzt?
Radio Vatikan: Wenn man sich die letzten zehn Jahre in Ungarn ansieht, kann man schon fragen, was das bedeuten kann – wir haben zum Beispiel gesehen, dass Orban die Pressefreiheit stark eingeschränkt hat, um nur ein Beispiel zu nennen. Was ist vor diesem Hintergrund, wo in der Corona-Krise Orbans Macht zusätzlich erweitert ist, zu erwarten?
Máté-Tóth: Ich denke, es ist wichtig einen Unterschied zu machen: Wenn es direkt um den Umgang mit der Krise geht, dann Einheit, denn diese Krise betrifft Menschen unabhängig der politischen Einstellung. Was dann aber die praktische Ausführung dieser Entscheidungen betrifft, da sehen wir die Kritiken und Diskussionen berechtigt. Allerdings muss man auch irgendwie einen Ausgleich finden – eine Balance zwischen der mit der Krise logisch begründbaren Loyalität und der mit der Demokratie begründbaren Kritik- eine Balance zwischen beiden. Das ist natürlich isehr schwierig. Diese Krise hat viele Menschen in der Opposition in ihrem Hass auf Orban bestärkt, aber andere Menschen haben gesehen oder eingesehen, dass man hier nicht die übliche Regierungskritik routinemäßig üben kann, sondern sich wegen der Größe und Universalität dieser Gefahr zurückhalten und Wege suchen muss, wie man zusammenarbeitet. Es ist doch unmöglich zu denken, dass man in einem Land, das durch diese Epidemie betroffen ist, weiterhin völlig abgesondert zwei Lager aufrechterhalten muss, weil das irgendwie die Aufrechterhaltung der Demokratie bedeuten würde und die Gefahr einer totalitären Diktatur abwendet. Also das geht zu weit, denke ich.
Radio Vatikan: Welche Reaktionen gab es denn in Ungarn selbst - in der Bevölkerung, sieht die das Ganze gerechtfertigt angesichts Corona?
Máté-Tóth: Ich denke dass die Bevölkerung das Problem Corona immer ernster nimmt und es wird berichtet, dass die Menschen die Anordnungen hören und versuchen, sie so gut wie möglich auch einzuhalten. Man muss auch wissen: Die Regierung hat sehr viele Maßnahmen ergriffen, um Menschen in der Privatwirtschaft, kleine Firmen, zu unterstützen. Zahlungsfristen wurden aufgeschoben und andere Maßnahmen gab es auch. Das bedeutet, dass die Menschen das auch mithören, und die allgemeine Bevölkerung konzentriert sich nicht so sehr auf dieses politische Kalkül und die Angst, das ist eher ein Spiel der Intellektuellen. Der Normalmensch in Ungarn hat andere Fragen: Was wird jetzt kommen finanziell für die Familie, werden die finanziellen Leistungen des Staates jetzt aufrechterhalte? Funktioniert wirklich, dass die Kinder Online-Lehre bekommen können, können Familien in Frieden zusammenleben in der Isolation? Diese Fragen sind sehr praktische und lebensnahe Fragen.
Radio Vatikan: Wie agiert die katholische Kirche in der aktuellen Lage?
Máté-Tóth: Es gibt in vielen Diözesen Krisenmaßnahmen. Die Kirchen sind in dieser Hinsicht Partner der Regierung im Krisenmanagement. Andererseits ist es sehr, sehr interessant zu beobachten, für mich als Religionssoziologe besonders, wie die einzelnen Gemeinden, die Priester, die Ordensgemeinschaften, auch engagierte Katholikinnen und Katholiken – wie sie kreativ werden in dieser Zeit. Und da gibt es auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken sehr viele Initiativen. Und es sieht so aus, dass die Kräfte, die aus der Religion kommen und die viele Menschen offline erfahren haben, dass diese Kräfte irgendwie durch das Internet auch wirksam werden.
Bilder des Papstes in der Krise
Radio Vatikan: Wie wurden die letzten Gebetsinitiativen des Papstes in Ungarn aufgenommen? Der Segen Urbi et orbi vom leeren Petersplatz etwa?
Máté-Tóth: Es ist vielleicht nicht zu übertrieben zu sagen, dass dieses Bild, Papst allein am Petersplatz, dass sich das eingebrannt hat, es bedeutet sehr viel. Überhaupt wird der Papst in Ungarn allgemein sehr gut aufgenommen. Natürlich – im politischen Geschäft bezüglich der Flüchtlingskrise wurde der Papst oft kritisiert, aber doch im Allgemeinen gut aufgenommen. Aber jetzt, diese dramatische Situation und diese symbolhafte Handlung des Papstes mit seinem Segen, alleinstehend und doch irgendwie nahe, der ganzen Welt – das verstehen die Menschen irgendwie bildlich, dieses Bild prägt die Menschen sehr und vielleicht ist das auch ein Anlass dafür, dass nach der langen kommunistischen Indoktrinierung ein anderes menschennahes Bild der Kirche und des Papstes verbreitet wird - das menschenfreundliche Antlitz der Kirche kommt durch diese Geste mehr zum Vorschein.
Radio Vatikan: Sie haben die Flüchtlingskrise angesprochen und angedeutet, dass die Perspektive des Papstes dazu in Ungarn auf Kritik stieß. Dort wird eher auf Hilfe in den Herkunftsländern der Flüchtlinge gesetzt als denn eine Aufnahme der Schutzbedürftigen in Ungarn selbst. Können Sie darauf näher eingehen?
Máté-Tóth: Die politischen Spannungen in Ungarn bestimmen alle Themen in der Öffentlichkeit. Sobald der Heilige Vater etwas sagt, was Relevanz hat, für den heutigen politischen Diskurs, wird dies direkt in diese dichotome Betrachtungsweise gezogen und als ein Mittel zum Zweck benutzt, je nach politischer Überzeugung und je nach politischer Partei. Das ist das eine und nichts besonderes, das gibt es auch in Österreich, Polen, Bulgarien. Eine andere Sache ist, was die Menschen über diese Entscheidungen denken und wie sie darüber diskutieren. Und ob sie dazu in der Lage sind, eine mehr oder weniger parteipolitisch unabhängige Stellungnahme selbst entwicklen zu können - denn das ist das größere Problem in Ungarn. Die Menschen sind religiös und theologisch sehr, sehr ungebildet, darum ist es sehr schwer, hier autonome Meinungen zu bilden, die vor allem auf dem Glauben der Kirche gründen und nicht auf der politischen Meinungsmache...
Radio Vatikan: Vielen Dank für Ihre Einschätzungen, Herr Máté-Tóth.
Die Fragen stellte Anne Preckel.
(vatican news – pr)
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