Afghanistan: Vielleicht nie wieder Schule
DOMRADIO.DE: Für Mädchen und Jungen in Afghanistan geht es nicht nur darum, ob sie bald wieder zur Schule können, sondern es geht wirklich ums nackte Überleben. Wie viele sind betroffen?
Susanna Krüger (Vorstandsvorsitzende des Kinderhilfswerks „Save the Children“): Von 37 Millionen Einwohnern in Afghanistan sind 60 Prozent unter 18 Jahre alt. Und von diesen 37 Millionen Einwohnern leben 35 Millionen von weniger als zwei Dollar am Tag.
„Save the Children“ ist seit 1976 in Afghanistan, und wir haben gesehen, wie diese Bevölkerung auch sehr schnell wächst. Es ist die am schnellsten wachsende Bevölkerung weltweit. Und fast fünf Millionen Kinder kämpfen tagtäglich ums nackte Überleben. Das sind die Zahlen vor Ausbruch der Pandemie, und unsere neuen Berechnungen belaufen sich auf rund acht Millionen. Das bedeutet wirklich, dass sie nichts oder sehr, sehr wenig zu essen haben und es keine Möglichkeit für gesundheitliche Versorgung gibt.
DOMRADIO.DE: Warum sind diese Kinder und ihre Familien in ihrer Existenz bedroht?
Krüger: Ich glaube, es gibt da mehrere Ebenen. Einmal war es vorher schon schwierig in Afghanistan. Es war ja kein Land, wo alles in Ordnung war. Wir sehen durch so eine Pandemie wie alles noch weiter erschwert ist, was vorher schon schwierig war: ein jahrzehntelanger Konflikt, Naturkatastrophen, eine schwache Wirtschaft.
Durch so eine Pandemie kommen natürlich alle öffentlichen Einrichtungen und auch Güter unter Druck, wie übrigens fast überall auf der Welt. Afghanische Familien sind da besonders leidtragend. Es gibt wenige Familien in Afghanistan, die einfach so ein monatliches Gehalt überwiesen bekommen. Die meisten gehen einfach tagsüber arbeiten und verdienen auch täglich ihr Geld und kaufen dafür Nahrung. Und das fällt während eines Lockdowns weg. Dadurch gibt es natürlich auch Mangelernährung.
Ein weiterer Punkt sind Grundnahrungsmittel, die weniger verfügbar sind; da erhöhen sich die Kosten. Zum Beispiel auf einem Markt in Kabul kostet Zucker 20 Prozent mehr als vor einem Monat. Oder Gesundheitssysteme geraten auch viel mehr unter Druck, vor allem wenn Ärzte und die Krankenschwestern gar nicht mehr zur Arbeit kommen können. Das sind Beispiele, warum das jetzt schwieriger wird als vorher.
DOMRADIO.DE: Aber man kann schon auch sagen, dass Afghanistan eigentlich in vielerlei Hinsicht auf einem ganz guten Weg war. Inwiefern?
Krüger: Ich würde das nicht uneingeschränkt sagen. Es gab tatsächlich unglaublich viele Fortschritte in den vergangenen zehn bis 15 Jahren, eine Rekordzahl von Kindern konnte die Schule besuchen. Wir haben wirklich Verbesserungen im Gesundheitssystem gesehen. Ich habe bei meinem Besuch im vergangenen Jahr, wo ich alle Programme von „Save the Children“ besucht habe, wirklich gesehen, dass es vor allem für Mädchen aus entlegenen Gebieten möglich war, zur Schule zu gehen, auch wenn es nicht einfach war.
Aber, und das ist wirklich wichtig zu verstehen, es gibt eine unglaublich prekäre Sicherheitslage. Diese hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten auch wieder verschlimmert. Wenn ich mit Frauen gesprochen habe, die für uns auch gearbeitet haben, haben alle Angst vor Rückschritten gehabt und davor Angst gehabt, dass die Taliban jetzt erneut die Macht übernehmen könnten.
Wir wissen ja, dass die USA im Februar 2020 ein Abkommen mit den Taliban über einen einen schrittweisen Abzug geschlossen haben - ohne die Regierung in Kabul einzubeziehen. Die Menschen haben Angst. Es gibt sehr viele zivile Todesopfer. Es sind alleine zwei Autobomben in einer Woche in Kabul explodiert. Es ist ein gefährliches Pflaster gewesen, auch vor Covid-19.
DOMRADIO.DE: Die Fortschritte, die Sie genannt haben - Rekordzahl von Kindern in den Schulen - stehen die jetzt wirklich durch die Pandemie wieder auf der Kippe?
Krüger: Es gibt Erfolge, die wieder zunichte gemacht werden können. Das gilt übrigens für sehr, sehr viele Länder in der Welt und für internationale Entwicklungsziele. Das ist nicht nur in Afghanistan der Fall, aber in Afghanistan ist es auch wieder wie durch ein Brennglas betrachtet.
Aber ganz konkret: Wir wissen, wenn vor allem Mädchen lange nicht zur Schule gehen, dass sie dann nach einigen Monaten auch gar nicht mehr zurückgehen, weil sie entweder zwangsverheiratet werden oder die Eltern keine Möglichkeit mehr dazu haben. „Save the Children" hat das vielfach auf der Welt in vergleichbaren Situationen gesehen, wenn die Schule ausgefallen war. Und deswegen steht das wirklich auf der Kippe.
DOMRADIO.DE: Was kann, was muss die internationale Gemeinschaft jetzt tun, um das Schlimmste in Afghanistan doch noch zu verhindern?
Krüger: Ich glaube, wir müssen hingucken. Und dürfen das nicht einfach so durchs Raster fallen lassen. Wir sind sehr Deutschland- und Europa- bezogen geworden, verständlicherweise in den vergangenen Monaten. Aber ich glaube, es ist an der Zeit, auch wieder zu schauen, was sonst noch auf der Welt passiert und die Fortschritte, die es gegeben hat, weiter unterstützen.
Das ist ja auch etwas, womit der Bevölkerung Hoffnung gegeben werden kann. Und dafür braucht es auch Finanzierung. Der UN-Hilfsplan, zum Beispiel für Afghanistan, ist im Moment nur zu 20 Prozent finanziert, und da können wir etwas tun. Da kann die deutsche Bundesregierung etwas tun, und da können die Vereinten Nationen etwas tun.
Das Interview führte Hilde Regeniter.
(domradio)
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