Kolumbien: Als wäre der Bürgerkrieg nie zu Ende gegangen
Immer wieder kommt es in verschiedenen Teilen des Landes zu Gewalt. Binnen elf Tagen haben bewaffnete Gruppen in diesem August 33 Menschen ermordet. Die linke Guerilla ELN weist die Schuld rechten Paramilitärs zu, die UNO spricht von kriminellen Banden. Ein trauriger Befund: Trotz Friedensabkommen hat sich am Töten und Sterben in Kolumbien nicht viel geändert. Es ist, als wäre der fünfzigjährige, blutige Bürgerkrieg nie so richtig zu Ende gegangen.
Der „ewige Präsident“ wackelt
Doch in die Politik ist Bewegung gekommen: Der „ewige Präsident“ wackelt. Alvaro Uribe, der zu Beginn des Jahrhunderts acht Jahre lang kolumbianischer Staatschef war, steht seit dem 4. August unter Hausarrest, die Justiz ermittelt gegen ihn, es geht um Menschenrechtsverletzungen und um seine Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen. Uribe riskiert acht Jahre Gefängnis – exakt so viel Zeit, wie er in Bogotà an der Macht war. Der Prozess gegen ihn ist eine Premiere für Kolumbien, und er spaltet das Land.
„Ich weiß nicht, ob das in menschenrechtlicher Hinsicht wirklich ein Wendepunkt ist, denn die Menschenrechte werden weiter jeden Tag verletzt.“ Das sagt der französische Lateinamerika-Experte Olivier Compagnon im Interview mit Radio Vatikan. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Verhaftung Uribes an dieser Lage vor Ort irgendetwas ändert. Aber symbolisch ist das doch eine wichtige Etappe, denn bisher hatte es immer so ausgesehen, als ob Uribe eine Art vollkommener Immunität genießen würde. Dabei war er an einer ganzen Reihe von Menschenrechtsverletzungen beteiligt. Dass er nun belangt wird, scheint mir für die Wiederherstellung des inneren Friedens in Kolumbien wichtig.“
Acht Jahre Macht, acht Jahre Haft?
Ein Selbstläufer wird das allerdings nicht. Denn der jetzige, konservative Präsident ist ein Ziehsohn Uribes. „Ivan Duque ist tatsächlich ein direkter Erbe Uribes; er unterstützt ihn und kritisiert die Entscheidung des Obersten Gerichts, Uribe unter Hausarrest zu stellen. Das Risiko besteht darin, dass es in den nächsten Monaten zu Interferenzen zwischen dem Präsidenten und der Justiz, die Uribe den Prozess machen will, kommt, denn Duque steht voll und ganz hinter Uribe.“
Und auch in der Bevölkerung gibt es noch viele Sympathien für den früheren Präsidenten. Vor allem bei älteren Leuten, die die dunkle Zeit Kolumbiens in den achtziger und neunziger Jahren miterlebt haben.
„Denken wir an das Abkommen über einen Friedensvertrag, das 2016 bei einer Volksabstimmung zunächst durchgefallen ist. Die internationale Gemeinschaft war damals sehr überrascht darüber. Santos, Uribes Nachfolger, war es gelungen, nach Jahren der Verhandlungen in Havanna ein Abkommen mit denr FARC zu schließen; man präsentiert dieses Abkommen der Bevölkerung, die eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs überdrüssig ist, und dieses Abkommen wird beim Referendum abgeschmettert. Das sagt viel aus über Uribes Erbe – denn Uribe hatte sich gegen das Abkommen ausgesprochen, weil er fand, die FARC käme dabei zu gut weg: Sie bekämen zu viele Gelegenheit zu einer Amnestie für vergangene Verbrechen, und außerdem öffnete sich ihnen der Weg in die Politik. Uribe fand nun, dass die FARC diese Vorzugsbehandlung nicht verdiente, und der Punkt ist, dass er mit dieser Ansicht eine Mehrheit der Kolumbianer auf seine Seite brachte. Bis heute sehen eben sehr viele Kolumbianer in Uribe den Mann, der entscheidend war für die wenigstens teilweise Befriedung ihres Landes nach den dunklen Jahren von Drogenhandel und Guerillakrieg.“
Nicht so tun, als wäre das Friedensabkommen ein Erfolg gewesen
Uribes Nachfolger, Juan Manuel Santos, versuchte den Befreiungsschlag, indem er Frieden mit der FARC schloss. Dass das Abkommen beim Referendum durchfiel, focht Santos nicht an, er setzte es auf parlamentarischem Weg trotzdem durch. Dabei wurde er von Papst Franziskus massiv unterstützt.
„Schon der erste Punkt des Friedensabkommens zielte auf die sehr tiefe Wurzel des Guerillakriegs, nämlich auf die Landfrage. Diese Guerillas, die die Geschichte Kolumbiens stark geprägt haben, stammen im wesentlichen aus den sechziger Jahren, aber sie haben eine Vorgeschichte bis in die zwanziger und dreißiger Jahre hinein. Ihr Ausgangspunkt war der Versuch, durch eine Agrarreform vom Modell der großen Landbesitze wegzukommen. Und im Abkommen mit den FARC war nun eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgelistet, um das in Angriff zu nehmen. Tatsächlich hat sich da aber in den letzten vier Jahren rein gar nichts getan – und das erklärt die große Enttäuschung vieler Guerrillakämpfer, die sich auf das Spiel eingelassen hatten. Einige von ihnen haben deshalb inzwischen wieder zu den Waffen gegriffen. Übrigens kommt es immer wieder zu Gewalt von Paramilitärs oder ihnen nahestehenden Kreisen – Gewalt, die völlig straflos bleibt –, so dass es naiv wäre zu denken, Kolumbien wäre jetzt seit vier Jahren ein friedliches Land. Die FARC hat die Waffen niedergelegt, das schon, aber die Gewalt vor allem auf dem Land bleibt sehr stark und sehr präsent. Man kann heute im Rückblick nicht einfach zufrieden mit den Friedensabkommen sein und so tun, als wäre das ein riesiger Erfolg gewesen.“
Die Rechnung stimmt auch andersherum
Andererseits aber – kaum auszudenken, wo Kolumbien heute stünde, wenn es die Vereinbarung mit der FARC nicht gegeben hätte.
„Naja, die Friedensabkommen waren schon eine extrem wichtige Etappe. Sie haben immerhin dazu geführt, dass eine Mehrzahl der Guerillakämpfer die Waffen gestreckt hat. Aber sie sind ein Fragment geblieben, und zwar auch deshalb, weil die Justiz viele Verbrechen nicht aufgearbeitet hat. Einer der Vorwürfe, den man dem Abkommen immer macht, geht dahin, dass die FARC nicht für viele kriminelle Handlungen wie etwa den von ihr unterhaltenen Drogenhandel bestraft worden sind. Aber die Rechnung stimmt auch andersherum: Man wird keine friedliche Gesellschaft in Kolumbien bekommen, wenn nicht eine Reihe von staatlichen Verantwortlichen und die Paramilitärs ebenfalls vor der Justiz Rechenschaft über die von ihnen begangenen Verbrechen ablegen müssen. Für den heutigen kolumbianischen Staat ist das eine Herausforderung: Er muss einigermaßen unparteiisch bleiben, wenn die eine wie die andere Seite vor Gericht erscheint. Aber hier hat die Justiz bislang versagt – und darum sind die Ermittlungen gegen Uribe und der gegen ihn verhängte Hausarrest jetzt ein wichtiger Schritt hin zu einer befriedeten kolumbianischen Gesellschaft.“
Der Staat muss zu seiner Verantwortung stehen
Das extrem gewalttätige Klima vor allem auf dem Land in Kolumbien erweckt allerdings nicht den Eindruck, als würde das so schnell etwas werden mit der befriedeten Gesellschaft. Compagnon:
„Ich bin überzeugt davon, dass die Justiz hier eine fundamentale Rolle spielen muss. Die bekannten Paramilitärs müssen mit ihren Verbrechen konfrontiert werden, und auch der Staat muss sich zu seiner Verantwortung bekennen. Der Konflikt in Kolumbien hat in den letzten fünfzig Jahren an die 400.000 Menschenleben gefordert, man kann die Zahl nur ungefähr bestimmen – und speziell während der Präsidentschaft Uribes war der Staat für einen Teil dieser Todesopfer verantwortlich. Das muss die Justiz aufarbeiten. Und dann muss der Staat sich mit den sozialen Ungleichheiten beschäftigen, die an der Wurzel dieses kolumbianischen Konflikts aus politischer Gewalt und Guerillakampf standen.“
(radio vatikan – sk)
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