Libanon: Kardinal Raï fordert schnelle Neuwahlen
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Am Sonntag hat nun der in Bkerke am Stadtrand von Beirut residierende Patriarch von Antiochien ein politisches Memorandum veröffentlicht. Darin fordert er knapp zwei Wochen nach den verheerenden Explosionen im Hafen der Hauptstadt vorgezogene Neuwahlen – und zwar ohne dafür erst ein neues Wahlrecht zu basteln und die Wahlen damit hinauszuzögern.
Der Maronitenführer stellt sich damit klar auf die Seite der Demonstranten, die in den letzten Tagen durch Beirut gezogen sind. Und er geht – nicht zum ersten Mal – auf Distanz zu Präsident Michel Aoun. Der ist zwar Maronit, hat aber eine politische Allianz mit der schiitischen, Iran-nahen Hisbollah geschmiedet, die Kardinal Raï noch nie behagt hat.
Für strikte Neutralität des Libanon
Und Aoun will (wie andere Vertreter des „Systems“, etwa Drusenführer Walid Dschumblad) erst einmal am Wahlrecht herumschrauben, bevor es Neuwahlen geben darf. Das nährt den Verdacht der Unzufriedenen und Verzweifelten im Libanon, dass die korrupte Klasse an der Spitze, die das Land in die Katastrophe geführt hat, auf Zeit spielen möchte, bis die Proteste von selbst wieder erlahmen.
Noch in einem zweiten Punkt stellt sich Kardinal Raï auf die Seite der Demonstranten und gegen den christlichen Präsidenten: Er fordert strikte außenpolitische Neutralität des Libanon und die Nicht-Einmischung ausländischer Akteure im Land. Damit will er sicher nicht dem Westen, vor allem Frankreich, zu dem hin die christlichen Libanesen sich immer orientiert haben, die kalte Schulter zeigen. Vielmehr zielt er auf die Hisbollah, die längst zu einem „Staat im Staate“ geworden ist.
Viele Demonstranten rufen in diesen Tagen nach einer Entwaffnung der Hisbollah. So weit geht Patriarch Béchara Boutros Raï in seinem Memorandum nicht. Von Neuwahlen verspricht er sich einen Neustart, „um das Land zu retten, nicht die politische Klasse“:
Sein „ Memorandum für den Libanon und eine aktive Neutralität“ (Arabisch) hatte Kardinal Raï schon vor der Explosions-Katastrophe angekündigt. Jetzt liest sich der Text stellenweise wie ein Manifest der Demonstranten von Beirut. Dabei geht er denkerisch über die aktuellen Probleme hinaus.
Keine Absage an das Gleichgewicht der Kräfte
Eine Absage an das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den verschiedenen Religionen, Konfessionen und Ethnien, das den Libanon seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 prägt, fordert Raï nicht; hier unterscheidet er sich von den Demonstranten. Der maronitische Patriarch zeichnet die Vision eines Libanon, der gerade wegen seiner Neutralität ein wichtiger Friedensfaktor im Nahen Osten sein könnte. Und er fordert die Vereinten Nationen unter anderem auf, eine Lösung für die etwa 500.000 palästinensischen und die 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge zu finden, die sich im kleinen Libanon aufhalten.
(vatican news)
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