Blick auf Jerusalem vom Ölberg Blick auf Jerusalem vom Ölberg  

Heiliges Land: „Spannungen kommen an die Oberfläche“

Israel hat fast seine halbe Bevölkerung gegen Corona geimpft. Dabei stellt die Impfstoff-Verteilung aber auch eine politische Frage: Wie steht man zu Palästina? Das berichtet der deutsche Priester Stephan Wahl aus Jerusalem.

Im „himmelklar“-Podcast von katholisch.de und Domradio Köln weist Wahl darauf hin, dass in Sachen Impfungen eine riesige Diskrepanz zwischen Israel und Palästina besteht.

Jerusalem ist eine faszinierende, chaotische und auch hektische Stadt. Wie ist bei Ihnen die Lage nach Monaten im Lockdown?

Stephan Wahl (Priester und Autor in Jerusalem): Die Lage ist natürlich sehr verhalten. Ich habe zum ersten Mal Jerusalem ein Jahr lang ohne Touristen, ohne Pilger erlebt. Jerusalem nur mit den Bewohnern selber, das hat natürlich auch einen eigenen Reiz und eigenen Charakter. Aber es ist auf der anderen Seite eigentlich grausam und furchtbar, weil viele Menschen, die hier leben, von den Touristen und von den Pilgern leben, gerade in der Altstadt. Seit einigen Monaten sind sie völlig aufgeschmissen, weil es eben nicht weitergeht.

Überall ist eine gewisse Resignation zu spüren. Man hangelt sich von Lockdown zu Lockdown. Mittlerweile haben wir ja drei Lockdowns hinter uns. Und das Schwierige ist: Es gibt keine Perspektive. Keiner weiß genau: Wann geht es weiter? Wann kommen wieder Pilger? Wann können wir die Geschäfte wieder aufmachen? Wann können die Guides wieder mit ihren Führungen beginnen? Wann kann ich endlich aus der Versicherungsleistung, die ich vielleicht noch bekomme, um die Zeit zu überbrücken, raus und kann wieder was Richtiges verdienen?

Impf-Bescheinigung auf dem Handy
Impf-Bescheinigung auf dem Handy

Umso schlimmer ist es natürlich für die Leute, die keine Jerusalem-ID haben, die aus der Westbank sind oder aus Gaza, denen diese Versicherungsleistungen nicht zukommen. Die müssen auch täglich darum kämpfen, wie sie über die Runden kommen.

Sind Sie im kompletten Lockdown im Moment, oder können die Geschäfte dann doch einzeln öffnen?

Wahl: Der dritte Lockdown wird jetzt Stück für Stück gelockert. Seit einigen Tagen können wir uns wieder frei bewegen. Es gab eine Ausgangssperre: Einen Kilometer, also 1000 Meter, durfte man sich entfernen. Das ist jetzt weg. Seit dem Wochenende können wieder Geschäfte über den Lebensmittelhandel hinaus geöffnet werden, wie etwa Museen.

Allerdings werden Sportveranstaltungen oder Fitnesscenter und Schwimmbäder nur geöffnet für Leute, die schon geimpft sind. Es wird jetzt einen grünen Pass geben, einen "Green Pass", der den Leuten gegeben wird, die die zweite Impfung hinter sich haben. Die können dann mehr tun als diejenigen, die diese Impfung noch nicht haben.

Für uns als Christen ist ein wichtiger Schritt, dass seit kurzem die Beschränkung aufgehoben ist für Gottesdienste. Ab jetzt kann man wieder mit zehn Leuten innerhalb eines Raumes und 20 Leuten außerhalb Gottesdienst feiern. Das hat zum Beispiel eine schöne Folge für die Erlöserkirche, die evangelische Deutsche Gemeinde hier in Jerusalem. Bis jetzt hat sie immer Gottesdienst im Internet gefeiert, seit Sonntag können sie wieder einladen in den Kreuzgang und dort Gottesdienste draußen feiern.

Betender Mönch in Betlehem
Betender Mönch in Betlehem

Mit Blick auf die Impfungen ist Israel am weitesten fortgeschritten. Mit über vier Millionen ist jetzt fast die halbe Bevölkerung geimpft. Inzwischen muss sich der Staat fast schon bemühen, Impfwillige zu finden. Haben Sie sich selbst schon impfen lassen können?

Wahl: Ich bin jetzt zum ersten Mal geimpft. Das ist im Grunde eine ganz bizarre Situation. Auf der einen Seite haben wir ja in Deutschland das Problem, dass zu wenig Impfdosen da sind. Meine Mutter zum Beispiel ist 85, die ist jetzt, Gott sei Dank, letzte Woche geimpft worden. Aber es ist schon einmal verschoben worden, weil nichts da war.

Ich bin letzte Woche Dienstag geimpft worden auf Hinweis eines israelischen Freundes, dass am Rathaus drei Tage lang jeder kommen konnte: Jeder, der wollte, konnte sich impfen lassen, egal ob er eine Versicherung hat oder wie alt er ist. Man stellte sich einfach an. Wenn es so eine Einladung gäbe bei uns in Deutschland, gäbe es wahrscheinlich eine riesige Schlange, wo man dann Stunden warten müsste, bis man dran kommt. Ich habe hier keine zehn Minuten gewartet.

„Sogar die Illegalen in Tel Aviv werden geimpft. Sie haben hier eher im Moment das Problem, dass der Rest, der noch nicht geimpft ist, nicht wirklich zur Impfung geht.“

Also das war für mich überhaupt kein Problem, ist ganz schnell passiert und jetzt muss ich nur abwarten bis zur zweiten Impfung. Es ist natürlich, das gebe ich frei zu, ein gutes Gefühl, geimpft zu sein. Vor allem, weil ich ja niemandem etwas wegnehme. Das ist kein Privileg, es ist auch kein Priester-Privileg oder sonst was, sondern das kann jeder, der hier im Land ist. Sogar die Illegalen in Tel Aviv werden geimpft. Sie haben hier eher im Moment das Problem, dass der Rest, der noch nicht geimpft ist, nicht wirklich zur Impfung geht.

Ausgrabungen am Ölberg brachten Reste eines antiken Ritualbads und einer byzantinischen Kirche zum Vorschein
Ausgrabungen am Ölberg brachten Reste eines antiken Ritualbads und einer byzantinischen Kirche zum Vorschein

Was bedeuten die Lockdowns und der Impf-Prozess denn für das Miteinander zwischen Israelis und Palästinensern? Vor kurzem haben die Vereinten Nationen die israelische Regierung aufgerfordert den Impfstoff auch mit den Palästinensergebieten zu teilen.

Wahl: Die Lage ist noch sehr schwierig und auch ein bisschen unübersichtlich. Ich weiß, dass Israel mittlerweile an Palästina 2.000 von 5.000 versprochenen Impfdosen geliefert hat, vor allem für medizinisches Personal. Und ich weiß, dass Palästina selbst 10.000 Dosen des russischen Impfstoffs „Sputnik V" geliefert bekommen hat, über den Flughafen „Ben Gurion" in Tel Aviv. Also es gibt da auch eine indirekte Zusammenarbeit, aber der Unterschied zwischen den Impfungen in Israel und Palästina ist natürlich noch enorm.

„die Spannungen, die es unter der Oberfläche gibt, werden jetzt besonders deutlich“

Macht das denn alles die Lage noch angespannter? Oder ist das ‚business as usual‘ in diesem Konflikt?

Wahl: Ich glaube, die Spannungen, die es unter der Oberfläche gibt, werden jetzt besonders deutlich. Wenn die Palästinenser jetzt Israel darum bitten würden, überzähligen Impfstoff rüber zu schicken, kann das indirekt als eine des facto Anerkennung der Besatzung missverstanden werden. Und umgekehrt: Wenn die Israelis sagen: Wir schicken euch viel mehr rüber als ihr habt, kann das wieder so interpretiert werden, dass die Israelis doch deutlicher ihre Machtposition zeigen, als es vielleicht politisch klug wäre. Das ist eine Zwickmühle.

Wir sind in der Fastenzeit, Ostern steht an. Vergangenes Jahr gab es das Osterfest erstmals unter Coronabedingungen. Weiß man denn schon, wie Ostern 2021 aussieht? Es gibt ja zum Beispiel am Palmsonntag immer die große Prozession, wo normalerweise Zehntausende Besucher teilnehmen.

Wahl: Also ich habe noch keine entsprechenden Richtlinien bekommen oder gesehen, wie das aussieht, aber ich gehe davon aus, dass es keine Prozession gibt. Letztes Jahr hat sie ja schon nicht stattgefunden. Und das wird auch dieses Jahr nicht sein, vermute ich. Wir werden als Christen sicher nicht einen Vorwand liefern für große Veranstaltungen, weil das ja im Land ohnehin sehr kritisiert wird.

Wir hatten das Problem neulich, dass es zwei große Rabbiner-Beerdigungen von den Haredim, also von den Ultraorthodoxen, gegeben hat in Jerusalem, wo sich 10.000 Menschen versammelt haben. Die Polizei hat einfach nur zugeschaut, weil sie wussten: Wir können nichts tun, sonst gibt es ein Blutbad.

Also, die Christen werden sich da sehr zurückhalten. Unser neuer Patriarch, den wir ja jetzt endlich seit Ende letzten Jahres haben, ist eigentlich bekannt dafür, dass er sehr klug und vorsichtig vorgeht. Leider kann ja auch in Deutschland die traditionelle Palmsonntagskollekte für das Heilige Land wieder nicht wie gewohnt stattfinden. Beim Deutschen Verein vom Heiligen Lande gibt es aber die Möglichkeit online zu spenden.

Warum sehen die Ultraorthodoxen diese ganzen Corona-Maßnahmen kritisch? Das ist ja eigentlich keine Frage der Religion, ob man sich an Abstand und Hygiene hält.

Wahl: Diese Ultraorthodoxen, die Haredim, sind eigentlich eine Minderheit. Sie machen zwölf Prozent der Bevölkerung aus, 1,2 Millionen ungefähr. Sie haben aber eine ganz massive politische Bedeutung, weil sie immer das Zünglein an der Waage sind, was auch den neuen Wahlkampf angeht und die neue Wahl auch. Das wissen sie. Und das gibt ihnen auch eine gewisse Autorität. Deswegen sind sie auch, was Ansagen von Seiten der Regierung oder des Staates angeht, immer sehr selbstbewusst.

Sie erkennen eher die Autorität ihres Rabbiners an, als die Autorität des Gesundheitsministers, weil sie ohnehin ein schwieriges Verhältnis zum Staat selber haben. Da gibt es zum Beispiel auch Probleme mit dem Wehrdienst. Und wenn einer der Rabbiner sagt: Diese Beerdigung ist wichtig, da müsst ihr alle hinkommen, dann kann die Regierung sagen, was sie will. Dann gehen alle dahin.

Und da kommt es wahrscheinlich dann auch zum dementsprechenden Infektionsgeschehen, oder?

Wahl: Ja, ganz klar. Es ist ja kein Geheimnis, dass 40 Prozent der Virusträger im Land Haredim sind. Das ist massiv. Und ich merke auch schon in den Kommentaren in der Zeitung oder im Radio, dass der Ärger der säkularen Israelis natürlich immer mehr steigt. Sie sagen, wir lassen uns von denen da an der Nase herumführen, und da macht ihr nichts. Ich sage es mal drastisch: Wenn sich Leute in zu großer Zahl versammeln bei Demonstrationen gegen Netanjahu, dann geht die Polizei radikal dagegen vor. Aber bei solchen Beerdigungen, da halten sie sich zurück, weil sie denken: Um Gottes Willen, das gibt Mord und Totschlag, und wir wollen nicht provozieren. Da gibt es eine Ungleichheit, die natürlich im Land auch immer mehr zu großen Schwierigkeiten führt.

Wie sehen denn die Planungen von katholischer Seite aus für die Ostertage? Kann man da schon etwas zu sagen?

Wahl: Wenn es so bleibt, wie es im Moment ist, dann wird es auch bei diesen zehn bzw. 20 Personen Regelungen bleiben. Das heißt, es wird keine großen Gottesdienste geben und es wird wahrscheinlich so ähnlich sein, wie es im letzten Jahr war, dass vieles auch medial übertragen wird.

Ich fand es sehr bemerkenswert damals, auch gerade in der Kar- und Osterzeit, dass die Gottesdienste aus dem Patriarchat auch in die Gassen der Stadt übertragen wurden. Überall waren Lautsprecher. Man konnte so zumindest mithören, was in den einzelnen Kirchen passierte. Ich glaube nicht, dass sich daran sehr viel ändern wird dieses Jahr. Es wird ein verhaltenes Ostern geben. Aber Ostern als solches kommt nicht in Quarantäne. Also Ostern wird stattfinden.

„Ostern als solches kommt nicht in Quarantäne. Also Ostern wird stattfinden.“

Manchmal denke ich, ich möchte es nicht jedes Jahr so haben, aber für einen selber ist es auch eine Reflexion auf das Eigentliche, was Ostern oder auch Weihnachten angeht. Es ist sehr wenig Verpackung. Es ist sehr wenig Äußeres, aber dafür mehr die Anfrage an einen selber: Was ist das Wichtigste, das einen selber dieses Fest im Innersten feiern lässt? Das ist eine ungewollte Exerzitien-Zeit.

Was bringt Ihnen Hoffnung in der aktuellen Lage?

Wahl: Hoffnung bringt mir, dass man ja Stück für Stück erkennt, dass die Zahlen zurückgehen. Das heißt, dass die Verbreitung des Virus eingedämmt wird, sodass man freier wieder an die Luft kann und auch bewegen kann. Und ich hoffe sehr, dass die Isolationsituation für viele Leute aufgelockert wird. Das ist nämlich höllisch für Leute, die alleine leben oder unter Depressionen leiden.

Da habe ich die große Hoffnung auf Erleichterungen, sodass da auch die Leute wieder neue Luft schnappen können und normal in den Alltag zurückgehen.

Und die größte Hoffnung ist, dass bei allem, was passiert, man hier in dieser Stadt, die so viel erlebt hat, auch immer wieder sagen kann: Wir sind durch so viele Probleme und Irritationen und Rückschläge gegangen. Aber der Glaube wird uns helfen, über diese Durststrecke zu kommen.

(himmelklar – sk)

Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes deutsches Podcast-Projekt, koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

24. Februar 2021, 08:52