Verzweiflung im Libanon: „Selbsttötungen sind normal geworden“
Christine Seuss und Antonella Palermo - Vatikanstadt
Wir sprachen mit Pater Oliver Borg, der selbst elf Jahre lang, bis 2015, im Libanon lebte. „Ich habe heute Morgen mit zwei Freunden im Libanon gesprochen, und beide haben mir gesagt, wie verzweifelt die Situation ist“, meint der Jesuit im Gespräch mit Radio Vatikan. „Die Menschen, die Familien, haben keine Nahrung. Die Gehälter sind gleichgeblieben, etwa 1,5 Millionen libanesische Pfund, aber das Geld ist mittlerweile viel weniger wert, im Durchschnitt sind es nun 50 US-Dollar.“ Zum Vergleich: Vorher verdiente ein Angestellter im Schnitt an die 1000 Dollar. Heute reichten aber nicht einmal 100.000 libanesische Pfund am Tag aus, betont der Pater. Überleben könne praktisch nur, wer Verwandte im Ausland habe.
Auch die Infrastruktur steht mittlerweile kurz vor dem Kollaps. Stromausfälle legen regelmäßig das ganze Land lahm, die Wasserwerke müssen immer wieder die Versorgung kappen. Unter anderem, weil es im Land an Öl mangelt. Zwar legen immer wieder Tanker im Beiruter Hafen an, doch die wertvolle Ladung wird nicht gelöscht, wenn der Staat kein Geld überweist – und der hat bereits im Jahr 2020 Zahlungsunfähigkeit angemeldet. Das Bankensystem ist marode, und den Bürgern, die ausländisches Geld auf ihren Konten hatten, wurden Kapitalkontrollen auferlegt.
Der Schwarzmarkt blüht
„Es gibt keinen Strom, denn es gibt kein Öl“, berichtet uns auch Pater Borg. „Man muss eineinhalb Stunden Schlange stehen, um sein Auto vollzutanken – wenn es überhaupt Benzin gibt. Und wenn Öl ins Land gelangt – es scheint, dass gerade kürzlich etwas angekommen ist – dann wird es auf dem Schwarzmarkt nach Syrien verhökert, das es dem Libanon dann zurück verkauft – zu einem höheren Preis, natürlich. Daran bereichert sich jemand.“
Auch den Gesundheitssektor hat die Krise mittlerweile im Würgegriff: Krankenhäuser können nur noch Notfallpatienten aufnehmen, da auch sie keine Medikamente mehr erhalten und von den Stromausfällen betroffen sind. Apotheken im ganzen Land schließen, weil keine Medikamente mehr ankommen.
„Auch die Schulen fragen sich, wie sie weiter jeden Tag öffnen können. Denn wenn sie die Schulgebühren erhöhen, dann können die Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, weil sie kein Geld haben. Wenn sie es nicht tun, dann müssen sie zumachen. Deshalb werden sie zunächst wohl mit online-Unterricht weitermachen, um Strom und Transportkosten zu sparen und keine Schüler wegzuschicken.“ Insgesamt sei die Situation wirklich desolat, berichtet der Pater. Nach Angaben der UNO lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und ein Drittel der Kinder des Landes geht ohne Essen zu Bett.
Hunger und Verzweiflung
Täglich komme es zu Suiziden, weil die Menschen nicht mehr wüssten, wie sie ihre Familien ernähren sollen, betont P. Borg: „Erst vor Kurzem ist ein verzweifelter Vater in einem Krankenhaus aufgetaucht, und als er keine Hilfe bekam, nichts zu essen, keine Medikamente, da zog er eine Pistole und schoss sich selbst in die Brust, vor aller Augen. Aber das ist kein Einzelfall, sondern kommt praktisch täglich vor.“
Ins Bild passt die prekäre Lage der libanesischen Politik. Erst seit wenigen Tagen ist wieder ein neuer Premierminister im Amt, der schwerreiche, angesehene Geschäftsmann Najib Mikati. Er stellte die rasche Bildung einer neuen Regierung in Aussicht. „Lasst uns hoffen, dass es sich nicht nur wieder um eines der vielen Versprechen handelt, die letztlich nur wenige Tage später wieder gebrochen wurden“, so die lakonische Einschätzung des Jesuiten. Denn Arbeit gibt es für die neue Regierung wahrlich genug.
Kein politischer Wille zur Aufarbeitung der Explosion
Insbesondere die mangelnde Aufarbeitung der verheerenden Explosion vor einem Jahr, am 4. August 2020, sorgt bei den Menschen für Unmut. Acht hochrangige Staats- und Regierungsbeamte, darunter der Geheimdienstchef und der scheidende Premierminister, wurden nach einer gründlichen Untersuchung der Verantwortung für das Unglück im Hafen von Beirut angeklagt. Doch sie können strafrechtlich nicht belangt werden, weil die bisherige Regierung ihre Zustimmung verweigerte. Mehr als 200 Menschen starben bei der Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, die jahrelang sorglos im Hafen lagerten. Die umliegenden Viertel tragen bis heute deutliche Spuren der Detonation.
„Ich denke, es hat sich in dieser Hinsicht nicht viel getan, es gibt nichts Neues. Kein Wiederaufbau soweit, keiner, der vor Gericht gebracht wurde, weil die Autoritäten nicht wirklich den Willen haben, aufzudecken, was geschehen ist. Und das bedeutet, dass diejenigen, die dafür verantwortlich sind, letztlich keine Verantwortung übernehmen und nicht bestraft werden können,“ bestätigt Pater Borg. Doch ein Hoffnungszeichen sehe er in dem umwerfenden Geist der Solidarität, mit dem die Menschen versuchten, sich gegenseitig in dieser Situation zu unterstützen: „Und ich würde sagen, die Kirche und andere Organisationen versuchen wirklich, den Menschen bestmöglich zu helfen. Aber auch ihre Möglichkeiten sind aufgrund der finanziellen Lage des Landes wirklich begrenzt.“
(vatican news - cs)
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