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Syrien: Die unvorstellbare Not der Menschen

Von unvorstellbarer Not in der syrischen Stadt Homs berichtet der oberösterreichische Jesuit Gerald Baumgartner. Baumgartner lebt seit rund einem Jahr in Homs im Jesuitenkloster und bekommt die Tragik einer vom Krieg zerstörten Stadt und einer katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Situation hautnah mit.

In einem Religionspodcast plädiert Baumgartner für ein Überdenken der westlichen Wirtschaftssanktionen. Diese würden nicht die syrische Regierung, sondern die Bevölkerung treffen.

„Die Leute erzählen, dass es jetzt schlimmer ist als zur Zeit des Krieges. Es herrscht Mangel an den fundamentalsten Gütern“, so der Jesuit zur aktuellen Lage. Strom gebe es nur eine Viertelstunde pro Tag, „wenn man richtig Glück hat, vielleicht auch eine Stunde, aber das passiert sehr selten“.

Benzin und Diesel sind Mangelware

Auch Benzin oder Diesel seien absolute Mangelware, „und wenn man es bekommt, ist es extrem teuer“. Ein Liter Benzin koste derzeit 6.000 Lira, umgerechnet eineinhalb Euro. Allerdings bei einem durchschnittlichen Monatsgehalt von 70.000 Lira. „Das ist so, als ob bei uns ein Liter Benzin 180 Euro kosten würde.“ Für subventionierte Grundnahrungsmittel müsse man sich lange anstellen, „oder man kauft auf dem Schwarzmarkt, wenn man Geld hat“.

Überleben sei für den Großteil der Menschen nur mehr möglich, wenn es ein Familienmitglied bereits nach Europa geschafft hat. „Wenn dieses dann auch nur 100 Euro im Monat überweist, kann eine vierköpfige Familie damit überleben.“ Alle anderen, die nicht dieses Glück hätten, seien auf humanitäre Organisationen angewiesen. Dazu zähle etwa der Flüchtlingsdienst der Jesuiten.

Licht als „absoluter Luxus“

Das Leben vor Ort sei unglaublich hart, so Baumgartner: „Als ich aus Homs abgereist bin, hatte es minus drei Grad. Es gibt keine Heizung, auch wir haben keine im Kloster. Ich schlafe in meinem Zimmer mit drei Decken und Haube. Geduscht wird mit meist eiskaltem Wasser.“ Ein solches Leben zehre die Menschen aus. Das spüre er auch am eigenen Leib. „Als ich nach Homs gekommen bin, habe ich gleich einmal durch Krankheit 15 Kilo abgenommen.“

Das Kloster lebe dabei noch im „absoluten Luxus“, so der Jesuit: „Mit einer Solaranlage können wir Batterien betreiben und deswegen haben wir zumindest Licht.“ Viele Menschen in Homs würden freilich nachts im Dunkeln sitzen. Sogar Kerzen seien für die meisten zu teuer.

Im Kloster hätten die Schüler und Studenten die Möglichkeit, ihre Handys und teils Laptops zu laden. „Deswegen kommen auch viele Studierende zu uns, um bei uns zu lernen. Wir haben bei uns zwei Steckerleisten mit insgesamt 40 Dosen. Die sind immer voll belegt.“ Bei schlechtem Wetter und wenig Sonne gebe es aber auch im Kloster keinen Strom „und wir sitzen im Dunkeln“.

Zum Nachhören: Jesuit berichtet von der verzweifelten Lage in Homs - Radio Vatikan

Ein PCR-Test für 100 Dollar

Auch die medizinische Versorgung sei weitgehend zusammengebrochen. „Wenn jemand Krebs hat oder wenn jemand Covid bekommt und einen schweren Verlauf hat, dann stirbt man einfach. Ich bin fast jede Woche auf einem Begräbnis von einem 50-Jährigen oder einer 40-Jährigen, die an Krankheiten sterben, an denen man bei uns längst nicht mehr stirbt.“

Corona sei freilich angesichts der vielen anderen Probleme kaum ein Thema in Homs. PCR-Tests seien zwar an manchen Orten möglich, „ein einziger Test kostet aber 100 Dollar, das Vierfache eines Monatsgehalts. Wer macht das schon?“

Viele Menschen seien als Tagelöhner darauf angewiesen, täglich hinauszugehen. „Die können sich nicht isolieren. Auch nicht die vielen, die sich in den Schlangen um Brot anstellen, um nicht zu verhungern.“ Allein schon die humanitäre Lage erlaube keine effektiven Maßnahmen gegen das Virus.

Keine Perspektiven für die Jungen

Die kleine Gemeinschaft der Jesuiten im Kloster im Homs besteht aus fünf Ordensmännern: „Fünf Jesuiten aus fünf verschiedenen Nationen. Ein Franzose, ein Pole, ein Ägypter, ein Syrer und ein Österreicher“, so Baumgartner. Bis zu 1.500 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen nehmen in der einen oder anderen Form an den Aktivitäten des Klosters teil. Es gibt Gruppenstunden, Workshops, Katechesen aber auch Sommerlager. „Wir wollen den Jugendlichen, den Studierenden, den Kindern einen Ort schaffen, wo sie durchatmen können, wo Frieden herrscht“, so P. Baumgartner.

Die Kinder und Jugendlichen würden unter unvorstellbaren Bedingungen aufwachsen. „Ein 15-jähriges Kind hat bewusst in seinem Leben eigentlich nur Krieg und Not erlebt. Die kennen nichts anderes. Kurz bevor ich abgefahren bin nach Österreich hat mich ein zehnjähriges Kind gefragt, ob es denn in Österreich schon mehr Strom gibt, vielleicht sogar drei oder vier Stunden am Tag.“

„Mittlerweile gibt es fast keinen Mittelstand mehr“

Letztlich seien auch alle traumatisiert von Krieg und Not. „Mit 17 oder 18 stellen sich die Jugendlichen dann die Frage nach der Zukunft. Und wir merken, dass diese junge Generation durchgehend geprägt ist vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit und der Depression.“ Sosehr sich die jungen Leute auch bemühen, „sie haben in Syrien keine Zukunft. Und zugleich sehen sie über Social Media, dass der Westen sich abschottet“. Was bleibt, sei das Gefühl: „Niemand auf dieser Welt will mich.“

Er sehe jeden Tag, dass die jungen Leute ihr Land wieder aufbauen wollten, „aber sie können es nicht“. Das liege vor allem auch an den Sanktionen, die der Westen noch immer aufrechterhält. Die Sanktionen würden nicht die Regierung treffen, sondern die Bevölkerung, so Baumgartner: „Mittlerweile gibt es fast keinen Mittelstand mehr. Alle sind in die Armut abgerutscht.“

Keine politischen Äußerungen

Die Christen können in Syrien ihren Glauben weitgehend frei praktizieren. Politische Äußerungen seien aber tabu. Das gelte für die Bevölkerung wie auch für die Jesuiten. Es fehle aber schlicht an Alternativen zur derzeitigen Regierung, so Baumgartner: „Die Menschen haben Angst davor, was danach kommen würde, und ich kann diese Angst gut verstehen.“

Genaue Zahlen über die Bewohner von Homs könne er nicht machen. Vor dem Krieg sei es eine Millionenstadt gewesen. Nun sollen es noch zwischen 500.000 und 600.000 sein, „was ich aber nicht glauben kann angesichts der riesigen Viertel, die noch in Trümmern liegen und völlig unbewohnbar sind“. Die Leute hätten einfach keine Ressourcen, „nicht einmal, um diesen Schutt aufzuräumen, geschweige denn, um wieder etwas aufzubauen“. Baumgartner: „Manche gehen einfach jeden Tag an der Ruine ihres Hauses vorbei, wo sie die Kindheit verbracht haben. Und sie erinnern sich: Da ist ihr Haus gestanden, dort das Haus vom Nachbarn, der umgebracht wurde, dort ist ein Panzer gestanden. So erzählen Sie mir das.“

Religiöse und humanitäre Programme

Im Jesuitenkloster trenne man sehr strikt zwischen religiösen und humanitären Angeboten bzw. Aktivitäten, erläuterte Baumgartner. Religiöse Angebote gebe es nur für Christen, wenn Muslime daran teilnehmen würden, könnte das zu schwerwiegenden Problemen führen, so der Jesuit. Vor dem Krieg sei das Miteinander von christlicher Minderheit und muslimischer Mehrheit deutlich besser gewesen. Bei den humanitären bzw. sozialen Programmen sei man freilich offen für alle.

Baumgartner: „Wir wollen die Kinder, die zu uns kommen, so erziehen, dass sie offen sind und Toleranz für andere Religionen aufweisen, dass sie Frieden anstreben. Aber die Wunden sitzen tief.“

Zwischen den einzelnen christlichen Konfessionen werde freilich im Kloster kein Unterschied gemacht. In ganz Homs gebe es überhaupt nur drei römisch-katholische Familien. „Wir nehmen Menschen von jeder Konfession auf und es gibt keinen Unterschied. Und ich frage auch nicht nach der Konfession.“ Es seien vor allem orthodoxe Christen, die zu den Jesuiten kommen; oder auch Christen von katholischen Ostkirchen. In Homs werde Ökumene gelebt. Nicht nur bei den Jesuiten, sondern in allen Kirchen.

Unsägliche Sanktionen

Zur Frage, welche Botschaft er aus Syrien nach Österreich mitbringe, meinte der Jesuit: „Die unsäglichen Sanktionen gehören überdacht. Sie sind mittlerweile zu einem humanitären Verbrechen geworden. Das muss ich sehr klar sagen.“ Die Politik müsste neue Wege suchen, den Syrien-Konflikt zu lösen und das Land nicht noch weiter zu zerstören. „Die viel zitierten Fluchtursachen machen wir im Grunde selbst“, so Baumgartner.

Persönlich Kraft schöpfe er zugleich auch aus dem Vorbild der Menschen vor Ort, die trotz all der Not ihren christlichen Glauben nicht verlieren und darin Halt und Trost finden. Die Conclusio: „Gehen wir doch einen Schritt aufeinander zu, lassen wir uns inspirieren von der Botschaft des Evangeliums und versuchen wir einander mehr zu lieben. Es geht auch in den schwierigsten Situationen“. Das Fazit des Jesuiten: „Homs ist ein schrecklicher Ort, um zu leben, aber wahrscheinlich einer der besten Orte, um als Jesuit zu leben“.

Der von der ökumenischen Radioagentur Studio Omega produzierte Religionspodcast „Wer glaubt, ist selig“, ist unter anderem auf der Website der katholischen Kirche in Österreich und auf Spotify abrufbar.

(kap – sk)
 

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25. Januar 2022, 12:10