Radio-Akademie (3): Christen in Syrien und Libanon
Ein Reporter von Radio Vatikan, Jean-Charles Putzolu, ist im Herbst 2021 nach Damaskus, Aleppo, Homs und Beirut gereist, um die Kirche im Zweistrom- und im Zedernland zu besuchen. Unsere Radio-Akademie bietet ungewöhnliche Einblicke in zwei Länder, die von Krieg und Krise geprägt sind - aber eben nicht nur...
Wir sind wieder in Aleppo, der einstigen Wirtschaftsmetropole Syriens. Sie war auch mal, noch vor Damaskus, die bevölkerungsreichste Stadt des Landes. Aber das ist sie nicht mehr. Von den 4,6 Millionen – Stand 2010 – sind nur noch 1,8 Millionen hier. Ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu sehen, wie viele Wohnungen leer stehen und verlassen sind.
Der Krieg hat Spuren in der Stadt hinterlassen – sichtbare und unsichtbare. Wenn man von Süden kommt, kann es sein, dass man diese Spuren nicht gleich erkennt. Während der heißen Phase des Kriegs kämpfte hier die Armee gegen Rebellen oder Terroristen, die den Nordteil der Stadt besetzt hielten.
„Im Süden sieht man die Zerstörungen nicht“, erklärt uns ein Einwohner. „Die Terroristen waren weniger gut ausgerüstet als die Armee, hatten weniger schwere Waffen und haben darum weniger Schaden angerichtet. Aber wenn Sie nach Norden gehen, dann sehen Sie da die Spuren der Luftangriffe der russischen Armee, die das syrische Militär unterstützte.“
Die Johannes-Paul-II.-Rakete im Garten
Der Mann erklärt, uns, dass es ganz einfach ist, ein Haus, das aus der Luft bombardiert wurde, von einem anderen zu unterscheiden, das von einer Rakete beschädigt wurde: „Die von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben machen die Gebäude völlig platt“.
Eine kleine Vorstellung von den eingesetzten Waffen geben uns die Karmelitinnen in Aleppo, die am ein Pfeifen in der Luft hörten. Schwester Anne-Françoise, die Oberin der Karmelitinnen in Aleppo, erinnert sich an Abend des 22. Oktober 2016. Da hörten die Schwestern ein Pfeifen in der Luft. Später fanden sie dann die sechs Meter lange Rakete, die im Garten des Klosters steckte, aber nicht explodiert war. Die Schwester glaubt, dass der hl. Papst Johannes Paul II. seine Hand über die Schwestern gehalten hat: Sein Fest wird an diesem Tag gefeiert.
Steinhügel und Müll
Das größte Drama spielte sich aber in der Altstadt ab: Das Viertel, das von der UNESCO einmal als Weltkulturerbe anerkannt wurde, existiert heute nicht mehr. Das liegt daran, dass die Altstadt genau zwischen den Fronten lag, eingeklemmt zwischen den verschiedenen Konfliktparteien. Nichts wurde hier wiederaufgebaut. Der Schutt ist immer noch da, er wurde nur an den Straßenrand geschoben, um den Verkehr durchzulassen. Die engen Gassen des historischen Zentrums sind zu Wegen geworden, die von Steinhügeln und Müll aller Art, Plastik, Dosen usw. gesäumt sind.
Mitten in der Altstadt, mit breiter Fassade und zwei Türmen: die maronitische Kathedrale. Sie wurde wieder aufgebaut. Dabei verlief in den Jahren der Belagerung von Aleppo genau hier die Frontlinie, erklärt uns Erzbischof Joseph Tobji.
Kirche ohne Dach
„Die syrische Armee stand vor der Fassade, und die Terroristen - wir sagen Terroristen, nicht Rebellen! - standen hinter der Kathedrale und schossen auf ihre Gegenüber. Da unsere Kirche das höchste Gebäude in der Nachbarschaft ist, wurde sie von allen Bomben und Raketen getroffen. Ich fand sie also ohne Dach vor, mit einer Kuppel voller Löcher, ein großer Teil der Wände war zerstört, und so weiter. Im Grunde genommen eine Katastrophe.“
Tobji war 16 Jahre lang Pfarrer der Kathedrale; die Zerstörungen an dem Bau waren für ihn kaum zu verkraften. Sobald sich die Gelegenheit ergab, begann er mit dem Wiederaufbau.
„Der Wiederaufbau, die Restaurierung dieser Kathedrale, ist wirklich von grundlegender Bedeutung, denn sie ist ein Zeichen der Hoffnung und ein Zeugnis der christlichen Präsenz hier in Aleppo. Es gab einen großen Wunsch, eine Beharrlichkeit bei vielen Menschen, sie wiederaufzubauen. Natürlich: Wir haben zwei Jahre gewartet, um zuerst die Häuser der Menschen, die Wohnungen, wiederaufzubauen, und erst danach haben wir uns an den Wiederaufbau der Kathedrale gemacht. Sie ahnen gar nicht, wie sehr das die Bevölkerung gefreut hat – Maroniten, aber auch Muslime. Die sagten: Endlich seid ihr wieder da! Sie ist ein Zeichen der Hoffnung, eine leuchtende Präsenz.“
Nachhilfestunden, Näh- und Kochkurse
Das ärmste Viertel von Aleppo war während der Belagerung die rote Zone: Keiner konnte rein oder raus. Einerseits wegen der Straßensperren, vor allem aber wegen der Scharfschützen, die in den oberen Stockwerken der umliegenden Gebäude lauerten.
Hier hat sich seit vier Jahren ein argentinischer Priester niedergelassen. Pater Hugo Fabian Alvaniz. Er hat seine Kirche wieder aufgebaut und versucht den Familien hier zu helfen. In den ausgebauten Kellerräumen der Pfarrei geben Freiwillige jeden Tag Nachhilfestunden; es gibt Näh- und Kochkurse und alle möglichen Aktivitäten. In der Kochwerkstatt werden warme Mahlzeiten zubereitet, die dann in die Häuser der Empfänger geliefert werden. In der Nähwerkstatt werden Kleidungsstücke wiederverwendbar gemacht. Nichts geht verloren, alles wird wiederverwertet.
Als Pater Hugo sich hier vor vier Jahren niederließ, nahm er zunächst 24 Kinder und Jugendliche auf. Heute sind es mehr als 500. „Die Familien wissen durch 'Mundpropaganda', dass wir hier sind, und das hört nie auf“, sagt er. Seine Gemeinde kümmert sich auch um Gehörlose und Hörgeschädigte. Von morgens bis abends herrscht hier ein Gewimmel von Menschen. Es ist ein echter Ort des Lebens und des Glaubens.
Szenenwechsel: Woanders in Aleppo, in einer kleinen Straße, arbeitet „A drop of milk“, „Ein Tropfen Milch“. Eine Organisation, die die Maristenbrüder auf die Beine gestellt haben. Draußen ein unscheinbares Schaufenster, drinnen zwei junge Leute in blauen T-Shirts. Sieht nicht spektakulär aus – aber diese Organisation versorgt 3.000 Familien mit Kleinkindern mit einem Kilogramm Milchpulver pro Monat, und mit Kondensmilch für Neugeborene. Sie ist die einzige in der ganzen Stadt, die einen solchen Service anbietet.
Milch, das weiße Gold
Milch ist für die meisten Menschen in Aleppo unerreichbar – sie kostet 12.000 Pfund pro Kilo, ein Durchschnittslohn liegt bei 70.000 Pfund. Die Jugendlichen des Vereins gehen beim Milchverteilen sehr gewissenhaft vor. Jeder Empfänger wird auf einer Liste abgehakt, damit er nicht mehr als die zugewiesene Menge erhält. Und bei jedem Kilo, das ausgegeben wird, reißen sie die Packung auf, um zu verhindern, dass sie weiterverkauft wird. Bei diesem Preis ist Milchpulver so etwas wie weißes Gold.
Und noch ein Szenenwechsel. Jetzt stehen wir vor der armenisch-apostolischen Kathedrale von Aleppo. Hier verteilen orthodoxe Freiwillige jeden Tag warme Mahlzeiten an Senioren. Wie bei den anderen christlichen Initiativen in der Stadt wird auch hier nicht nach der Konfession gefragt, sondern einfach geholfen.
„Die Armen bitten nie um etwas“
In den Räumen der Gemeinde kochen Freiwillige armenische Spezialitäten, die verpackt, eingetütet und dann rausgebracht werden, vor die Tür. Dort stehen die Rentner Schlange – alle würdig, gut gekleidet, die Frauen ordentlich frisiert. Nichts deutet darauf hin, dass sie in großer Armut leben. „Die Armen bitten nie um etwas“, sagt uns ein Ordensmann. „Sie akzeptieren, dass man ihnen hilft, aber sie kommen nicht, um zu betteln“. Er erklärt sich das damit, dass diese Menschen vor dem Krieg wohlhabend waren. Doch nach zehn Jahren Krieg und fünf Jahren Wirtschaftskrise haben sie nichts mehr.
Im ersten Stock des Gebäudes hat die armenische Gemeinde ein Waisenhaus eröffnet: für 38 Jungen und Mädchen im Alter von 8 bis 22 Jahren. Jeder hier hat eine andere, schwierige Geschichte. Marina zum Beispiel, heute 21. Sie fand hier Aufnahme, nachdem sie aus Hassaké im Norden geflohen war. Dort hatten Islamisten ihren Vater und ihren Bruder umgebracht. Ihre Mutter ist nach einer schweren Krankheit verstorben.
Geldscheine und warme Schuhe
In diesem Waisenhaus sind sehr starke Bindungen entstanden, die Kinder betrachten sich als Geschwister und nennen die Betreuerinnen „Tante“. Die, die das Heim verlassen haben und noch in Syrien sind, kommen oft zu den Feiertagen zurück; ehemalige Bewohner, die ins Ausland gezogen sind, schicken Geld, um das Waisenhaus zu unterstützen.
Nicht weit von der armenischen Kathedrale entfernt hat sich auch die griechisch-orthodoxe Kirche organisiert. Die Warteschlange beginnt auf dem Bürgersteig. Im Inneren werden an Bedürftige Umschläge mit Geldscheinen verteilt. Die Freiwilligen haben auch gerade eine Lieferung mit warmen Schuhen für den Winter erhalten. „Alles, was wir tun können, tun wir auch“, sagt der Leiter des Zentrums. Die Geldbeträge sind nicht hoch; man kann sich dafür kein Kilo Fleisch kaufen.
Außerdem werden hier 800 Mahlzeiten täglich ausgegeben. 70 Prozent der unterstützten Personen sind älter als siebzig Jahre. Die Jüngeren sind meistens weggezogen, die Älteren versuchen zu überleben. In Aleppo lebten vor dem Krieg 300.000 Christen, jetzt sind es nur noch 20.000, meist Ältere. Ohne die Hilfe aus den christlichen Pfarreien stünden die meisten hier vor dem Nichts.
Erzbischof Tobji kann schon verstehen, dass die jungen Leute Aleppo und Syrien Hals über Kopf verlassen. „Natürlich finden sie hier keine Hoffnung und keine Zukunft, und sie fühlen sich ausgequetscht wie eine Zitrone... Ein junger Mann, der etwas leisten will, der handeln will, kann nicht in diesem syrischen Umfeld leben, das von Depression und Druck geprägt ist. Aber es ist gar nicht so sehr der politische Druck; es ist der Druck des Lebens, der Druck des Alltagslebens. Junge Menschen studieren fünf Jahre lang an der Universität, um dann keine Arbeit zu finden. Oder wenn sie doch Arbeit finden, reicht der Lohn noch nicht mal, um Zigaretten zu kaufen.“
Kein Wunder also, dass sie vom Westen träumen. „Sie wollen wie die Westler leben, sie denken an ein romantisches Leben, ein gutes Leben, eine Zukunft mit Arbeit, Freiheit und Wohlstand. All das steht den jungen Leuten ständig vor Augen, wenn sie ihre Freunde sehen, die jetzt im Ausland arbeiten und Selfies vor Palästen und Gärten machen. Bei uns gibt es das alles nicht, und so wird dieser Traum in den Köpfen unserer jungen Leute immer stärker.“
Vielleicht wird die Lage ja mal besser, wenn der Krieg endgültig vorüber ist und die internationalen Sanktionen gegen Syrien aufgehoben werden. Wenn.
„Eigentlich bin ich in dieser Hinsicht pessimistisch, denn menschlich gesehen gibt es für die westlichen, amerikanischen und europäischen Politiker keinen Grund, die Sanktionen aufzuheben, weil sie sie verhängt haben, um eine Gegenleistung zu erhalten. Und diese Gegenleistung gibt es noch immer nicht. Jetzt bin ich nur im Glauben optimistisch, denn der Herr kann alles tun, nichts ist unmöglich… aber menschlich gesehen sehe ich keinen Ausweg.“
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(vatican news – sk)
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