Not in Syrien: „Wir brauchen ein sehendes Herz”
Neun von zehn Menschen in Syrien leben nach Angaben der UNO unterhalb der Armutsgrenze, referiert Zenari. „Wie der barmherzige Samariter, der einem armen Mann begegnete, der von Dieben überfallen, ausgeraubt und halbtot am Straßenrand liegen gelassen wurde, sieht auch die syrische Kirche 13 Millionen Menschen, die unter diesen Bedingungen leben. Menschen, die Hunger haben und die unter der Kälte leiden.” Vor einigen Wochen seien Zelte in Vertriebenenlagern unter der Last des Schnees zusammengebrochen. „Sogar ein Kind wurde unter einem dieser Zelte erdrückt, einige Babys sind erfroren. Das ist es, was die syrische Kirche derzeit sieht.”
Zenari nahm dieser Tage an der Vollversammlung der Ostkirchenkongregation in Rom teil. Dabei wurde für März eine Tagung in Syrien vereinbart, mit einigen Mitgliedern von Kurienbehörden aus Rom. Die Idee kam von Kardinal Leonardo Sandri, dem Präfekten der Ostkirchenkongregation, so Zenari. Das Thema des Treffens im gemarterten Syrien: Caritas und Synodalität.
„Wir brauchen das sehende Herz"
Was in Syrien passiert, das könne jeder sehen, der sehen will, fuhr Zenari fort. „Aber, wie Papst Benedikt XVI. sagte, man braucht ,das sehende Herz´”; der deutsche Papst hatte in seiner Antrittsenzyklika „Deus Caritas est" (Gott ist Liebe) von 2013 das „sehende Herz” als „das Programm des Christen, das Programm des barmherzigen Samariters, das Programm Jesu” beschrieben. „Auch im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gab es zwei Menschen, die den Verletzten sahen, sich aber abwandten und ihren Weg fortsetzten. Deshalb brauchen wir ein sehendes Herz. Wir brauchen die ,Kreativität der Liebe´, von der Papst Franziskus spricht: Wir müssen etwas tun, wir müssen aktiv werden. Und es gibt noch eine weitere schöne Äußerung von Johannes Paul II., die die ,Phantasie der Liebe' betrifft. Angesichts dieser humanitären Katastrophe müssen wir unbedingt die Vorstellungskraft der Nächstenliebe entwickeln und auch mit dem Herzen sehen.”
In der Öffentlichkeit sei Syrien bei aller Dramatik „seit zwei bis drei Jahren in Vergessenheit geraten”, vermerkt Zenari. Medienleute, an die er sich wandte, hätten ihm geantwortet, dass sich nach zehn Jahren Krieg „leider keine Nachrichten mehr über Syrien verkaufen" ließen. „Diese Tatsache, vergessen zu werden, schmerzt wirklich sehr, es ist sehr traurig. Inzwischen sind andere Probleme aufgetaucht, wie der benachbarte Libanon, jetzt die Ukraine, Covid.”
Was die Pandemie anlangt, spricht Kardinal Zenari allerdings von einer „Gnade in der Ungnade: Bis jetzt ist die befürchtete Katastrophe nicht eingetreten, weil niemand nach Syrien kommt. Es gibt keine offenen Flughäfen im Land, alles ist geschlossen, und seit Jahren gibt es eine Abriegelung, die das Eindringen und die Ausbreitung der Seuche verhindert.” Andererseits führe die Isolation eben auch dazu, dass Syrien von den Medien vergessen werde. Die Menschen in Syrien brauchen heute, so formuliert es der Kardinal, „physische Solidarität, sie müssen Menschen ins Land kommen sehen, um sich nicht verlassen zu fühlen.”
Syrien in Kriegsjahr 11
Die Kriegshandlungen in Syrien haben stark nachgelassen, aber immer noch sterben Menschen. 2021 sollen in dem Konflikt mindestens 3700 Menschen getötet worden sein, darunter mehr als 300 Kinder.
Vor allem im Nordosten Syriens leiden die Menschen immer wieder unter Angriffen von Extremisten des sogenannten „Islamischen Staats". Vor drei Jahren verlor die Terrororganisation ihr selbsternanntes Kalifat, besiegt ist sie aber noch längst nicht. Laut UN-Angaben sollen sich 10.000 IS-Dschihadisten in entlegene Wüstengebiete im Grenzgebiet von Syrien und Irak zurückgezogen haben.
(vatican news – gs)
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