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Kardinal Souraphiel von Addis Abeba Kardinal Souraphiel von Addis Abeba 

Äthiopien: Der andere Krieg

Auch in Äthiopien herrscht Krieg – schon seit November 2020. Die Scheinwerfer der internationalen Aufmerksamkeit richten sich nur selten auf das Horn von Afrika, doch auch hier kommt es offenbar zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern, Kriegsverbrechen.

Deborah Castellano Lubov, Giancarlo La Vella und Stefan von Kempis - Vatikanstadt

Es ist ein Bürgerkrieg, ausgefochten zwischen einer Streitmacht aus der Region Tigray, der TPLF, und dem äthiopischen Militär. Mehr als 2 Millionen Menschen wurden bisher vertrieben, Tausende starben; eine Hungersnot hat eingesetzt. Millionen von Äthiopiern brauchen dringend humanitäre Hilfe.

Immerhin sieht das Oberhaupt der katholischen Kirche im Land, Kardinal Berhaneyesus Souraphiel von Addis Abeba, jetzt Chancen für ein Ende des Waffengangs. Die meisten Äthiopier sind orthodox; auch Souraphiel und seine katholische Ortskirche folgen dem Kalender, nach dem jetzt gerade Karwoche ist und am Sonntag Ostern gefeiert wird. Im Interview mit Radio Vatikan sagt er:

Flüchtlinge aus Tigray im äthiopischen Afdera
Flüchtlinge aus Tigray im äthiopischen Afdera

Hoffnung auf einen Erfolg der Friedensverhandlungen

„Im Moment gibt es zumindest keinen Krieg und keine Kämpfe mehr, wie es noch vor einigen Monaten der Fall war. Jetzt ist es etwas besser, denn es laufen Verhandlungen zwischen der Zentralregierung und der Regionalregierung von Tigray. Wir hoffen, dass diese Verhandlungen einen dauerhaften Frieden bringen werden. Das ist die derzeitige Situation. Aber immer, wenn es Kriege und Konflikte gibt, sind es die einfachen Menschen, die leiden müssen. Vor allem in der Region Tigray, aber auch in benachbarten Regionen wie der Amhara- und der Afar-Region – in diesen Gebieten leiden die Menschen unter Vertreibung, Hunger und Zerstörung.“

Kinder gehen in eine Schule, die es gar nicht mehr gibt...

Viel Infrastruktur sei zerstört worden, berichtet der Kardinal: Schulen, Gesundheitszentren, Brücken. „Ich habe in einigen Gebieten gesehen, dass Kinder wieder zur Schule gehen – obwohl die Schule völlig zerstört worden ist. Deshalb sitzen sie auf dem Boden, auf Steinen oder Holzstämmen, und nehmen so am Unterricht teil. Aber das Miteinander ist für die Schüler sehr wichtig…“

Essensverteilung im Lager Debark für Binnenflüchtlinge - Aufnahme vom letzten September
Essensverteilung im Lager Debark für Binnenflüchtlinge - Aufnahme vom letzten September

Das Leid der Menschen sei „ungebrochen“, so Kardinal Souraphiel. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das Internationale Rote Kreuz und viele andere (darunter die katholische Caritas, die Orthodoxen, die Muslime und die Protestanten) tun alles Mögliche, um Lebensmittel und Medikamente zu den Bedürftigen zu bringen. Am schlimmsten ist die Lage in Tigray, im Norden.

Interview mit Kardinal Souraphiel von Addis Abeba über den Bürgerkrieg in Äthiopien - Radio Vatikan

„Humanitäre Korridore in Tigray werden immer wieder blockiert“

„Die humanitäre Lage in Tigray wird immer schlimmer, weil die humanitären Korridore, durch die die UNO und andere Lebensmittel ins Land bringen wollen, immer wieder blockiert werden – wir wissen nicht, von wem. Dadurch wird das Leiden der Menschen immer akuter. Hinzu kommt eine große Dürre, die auch mit dem Klimawandel zusammenhängt. Als katholische Bischofskonferenz von Äthiopien haben wir an unser katholisches Netzwerk in der Welt appelliert, insbesondere durch Caritas Internationalis. Erst vor zwei Wochen konnten wir 100 Millionen Äthiopische Birr bereitstellen, um diesen Menschen zu helfen – nicht nur in Tigray, sondern auch in den Nachbarregionen. Wir haben es mit einer großen humanitären Krise zu tun, in der die Menschen Hilfe brauchen.“

Frau aus Tigray
Frau aus Tigray

„Wir wissen, was es heißt, auf der Flucht zu sein…“

Trotz – oder vielleicht gerade: wegen – der desaströsen Lage in Äthiopien verfolgt der Kardinal aus Addis Abeba aber auch die Nachrichten vom Krieg in Europa. Dieser Krieg mache ihn „traurig“, sagt er in unserem Interview: „Nach fast 75 Jahren Frieden seit dem Zweiten Weltkrieg dachte ich eigentlich, dass es in Europa keinen Krieg mehr geben würde. Es schmerzt uns sehr, das Leid der Menschen in der Ukraine zu sehen. Wir hören in den Nachrichten, dass schon mehr als vier Millionen Menschen auf der Flucht sind. Und wir wissen, was es heißt, auf der Flucht zu sein… Äthiopien ist eines der wenigen Länder in Afrika, die sich um Flüchtlinge kümmern. Wir haben etwa eine halbe Million somalische Flüchtlinge, etwa 300.000 eritreische Flüchtlinge und etwa 430.000 weitere Flüchtlinge aus dem Südsudan. Stellen Sie sich mal vor: Wir haben sogar syrische Flüchtlinge, die nach Addis Abeba gekommen sind!“

Solidarität mit Ukraine

Souraphiel glaubt, dass der Papst mit seiner seit Jahren immer wiederholten Mahnung, die Welt befinde sich längst in einem „Dritten Weltkrieg in Stücken“, recht hat. Er dankt Franziskus dafür, dass er vor kurzem auch an den Krieg in Äthiopien erinnert hat, und versteht nicht ganz, warum es nicht wenigstens zu Ostern eine Waffenruhe in der Ukraine gibt.

„Hier ist nicht nur die Stimme des Heiligen Vaters, Papst Franziskus, gefragt, sondern auch die aller Christen, denn Russland und die Ukraine sind christlich! Der gleiche Appell des Patriarchen von Moskau würde noch mehr zur Verwirklichung des Waffenstillstands zwischen Russland und der Ukraine beitragen. Sogar im Jemen haben die Muslime jetzt wegen des Ramadan-Fastens einen Monat lang aufgehört zu kämpfen!“

„Äthiopien sollte nicht als ein Land der Konflikte oder des Krieges angesehen werden“

Die einfachen Leute in Äthiopien – und damit kommt Souraphiel zu seinem „eigenen“ Krieg zurück – beteten um Frieden. Und zwar ganz gleich, ob sie nun Christen oder Muslime seien.

„Wir leben schon seit Jahrhunderten zusammen! Äthiopien sollte nicht als ein Land der Konflikte oder des Krieges angesehen werden – das war nur in den letzten 40 oder 50 Jahren der Fall, und zwar wegen unterschiedlicher politischer Interessen. Wir haben hier in Äthiopien viele Herausforderungen, aber ich glaube und vertraue auf die Gebete der Menschen, die seit Jahrhunderten geeint sind, die untereinander heiraten und Kinder kriegen, die sich allesamt als Äthiopier sehen. Wir hoffen, dass wir Lösungen finden werden, damit die Menschen wieder zueinander finden und vereint bleiben.“

(rv – sk)
 

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19. April 2022, 12:34