Ukrainische Flüchtlinge in einem Caritas-Zentrum in Südost-Polen Ukrainische Flüchtlinge in einem Caritas-Zentrum in Südost-Polen 

Ukraine: Gleichzeitig Flucht und Rückkehr

Mit der Verlagerung des Hauptschauplatzes des Ukraine-Krieges in den Süden des Landes ist in den Regionen rund um die im Norden gelegene Hauptstadt Kiew so etwas wie „Normalität“ bzw. Alltag zurückgekehrt.

So gibt es laut der Projektleiterin des Hilfswerks Caritas-Spes, Olena Noha, gleichzeitig zu der anhaltenden Fluchtbewegung aus der Ukraine inzwischen auch viele Menschen, die wieder in die von Bombenangriffen betroffenen Städte zurückgekehrt sind. „Viele Ukrainer leben weiterhin in der Hoffnung, dass der Krieg zu Ostern oder bald danach ein Ende findet“, erklärte die im humanitären Dauereinsatz befindliche Kiewerin am Montag im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress.

Von 6,5 Millionen Binnenflüchtlingen sprach die Internationale Organisation für Migration (IOM) Ende März. Fünfeinhalb Wochen später stelle sich die Lage etwas verändert dar, berichtete Noha: „Viele haben sich in die Westukraine evakuiert und haben dort eine Unterkunft gemietet, was aber teuer ist - erst recht, wenn man die Arbeit verloren und kein Gehalt hat.“ Dies spiele, in Verbindung mit der zumindest etwas beruhigteren Lage in Kiew, mit hinein in die Rückkehrbestrebungen vieler.

Hilfsgüter der Caritas Polen für Ukraine-Flüchtlinge
Hilfsgüter der Caritas Polen für Ukraine-Flüchtlinge

„Tenor ist: Wir wollen die heimische Wirtschaft unterstützen“

In der Hauptstadt Kiew und weiteren Städten steige die Anzahl von Kleinunternehmen, die nun wieder aufsperren. „Tenor ist: Wir wollen die heimische Wirtschaft unterstützen“, so die Caritas-Projektleiterin. Im Online-Distance-Learning sei vor zwei Wochen auch der Schul- und Universitätsbetrieb wieder gestartet, womit die ukrainische Regierung auch die evakuierten und ins Ausland geflüchteten Kinder und Jugendlichen erreichen wolle.

Gleichzeitig ist jedoch weiterhin die humanitäre Situation vielerorts katastrophal. In den direkt von den Bombenangriffen und Kämpfen betroffenen Städten wie etwa in den Metropolen Charkiw und nun auch Odessa geht der Alltag in den Bunkern weiter. Geblieben sind besonders die Senioren und gesundheitlich wie auch sozial Beeinträchtigten, für die es keine Möglichkeit einer rechtzeitigen Evakuierung gab.

„Viele Menschen der umkämpften Städte wollen gar nicht fliehen“

„Viele Menschen der umkämpften Städte wollen gar nicht fliehen“, berichtete Noha. In vielen Städten werde mit primitivsten Mitteln auf der Straße gekocht oder es entstünden Feldküchen. Am schlimmsten ist die Lage in der schon seit Wochen von der russischen Armee umzingelten Stadt Mariupol, in der tausende Menschen weiterhin ohne Strom, Heizung, Wasser und auch Nahrung ausharren - und tagtäglich viele daran sterben.

Caritas-Hilfen für Flüchtlinge im polnischen Krakau
Caritas-Hilfen für Flüchtlinge im polnischen Krakau

Netzwerk der Verteilung

In diesem Szenario agiert derzeit die Caritas-Spes. Das Hilfswerk der römisch-katholischen Kirche hat bereits zu Kriegsbeginn alle Kinder aus den von ihr geführten Waisenhäusern sowie die Klienten des Mutter-Kind-Hauses in Charkiw ins Ausland evakuiert. Schwerpunkt der Arbeit ist seither die Ausstattung von Luftschutzbunkern sowie die Versorgung der Menschen in den Kriegsgebieten mit Lebensmitteln, Wasser und Hygieneartikeln. Dazu werden laufend Hilfstransporte vom Westen des Landes nach Kiew, Charkiw und Odessa organisiert und von dort aus weiter verteilt.

Mitunter werden jedoch auch vor Ort gebliebene Einzelpersonen zu Inseln der Nothilfe: Etwa in Kiew, wo die Finanzchefin der Caritas-Spes mit ihrem Freund und einer Ordensschwester in der Alexanderkirche Hilfslieferungen entgegennimmt und Lebensmittelpakete schnürt, die dann an Bedürftige verteilt werden – „abwechselnd einen Tag am rechten, dann einen Tag am linken Dnepr-Ufer“, so Noah über ihre Kollegin. Deren besonderes Augenmerk liege auf alleinstehenden älteren Personen. Im umkämpften Charkiw hält der dortige diözesane Direktor der Caritas-Spes, ein polnischer Priester, alleine die Stellung. Auch in Odessa legt Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk, der auch Referatsbischof der Caritas-Spes ist, tagtäglich selbst Hand an, um die Hilfsgüter-Verteilung zu koordinieren. Wo es keine Einrichtungen der Caritas-Spes gibt, werden Pfarren zu Verteilzentren.

Hilfsgüter dringend benötigt

Woher kommen die inzwischen mehreren hundert Tonnen von dringend benötigten Gütern, die das kirchliche Hilfswerk in den vergangenen Wochen bereits weiterverteilt hat? Der Großteil bisher von der polnischen Caritas, erklärte Noha, inzwischen seien die Lager im nahen Nachbarland jedoch zunehmend geleert, weshalb man nun verstärkt auch bei den bisherigen Partnern - vor allem in Deutschland und Österreich - anklopfe. „Besonders benötigt werden derzeit Lebensmittel, Medikamente und Verbandsmaterial sowie Bettwäsche, jedoch zumindest momentan keine Kleidung“, so die Projektleiterin.

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Versorgung von insgesamt 3.000 Flüchtlingen aus allen Teilen der Ukraine in vier vormaligen Kinder-Freizeitzentren im Westen des Landes. In einem dieser Einrichtungen, dem in der Region Iwano-Frankiwsk gelegenen Jablunitsa, wurde auch das aus Kiew verlegte Hauptquartier der Caritas-Spes provisorisch eingerichtet. Noha koordiniert mit derzeit fünf weiteren Kolleginnen in einem kleinen Büro die landesweiten und internationalen Hilfsprogramme der Caritas-Spes. „Wir arbeiten sieben Tage fast rund um die Uhr, da die Not so groß ist, wenden uns von hier aus an unsere Partner und Freunde, sammeln Spenden und suchen um Unterstützung.“

Beschäftigung und Aufarbeitung

Vom Alltag im westukrainischen Flüchtlingslager berichtete die nun selbst zur Vertriebenen gewordene Projektleiterin, die Bereitstellung von drei vollwertigen Mahlzeiten pro Tag sei nur eine der Herausforderungen in der Organisation. Wichtig sei auch die sinnvolle Beschäftigung der Kinder, wofür ein Spielzimmer, Workshops, Sportmöglichkeiten, eine Englisch-Konversationsgruppe sowie eine kleine Bibliothek eingerichtet wurden. Die Caritas-Spes kann hier auf starke freiwillige Mitarbeit zählen. Noha: „Viele der hier gestrandeten Frauen wollen sich nützlich machen - die eine als Juristin, die andere als Psychologin, als Leiterin von Sport- oder Gymnastikgruppen oder in der Freizeitbeschäftigung der Kinder.“ Einmal die Woche gibt es Kino für die Erwachsenen, während die Kinder ein Animationsprogramm erhalten.

Zunehmend in den Blick kommt auch das psychische Leid, das die Frauen - Männer dürfen sich nur 24 Stunden im Flüchtlingszentrum aufhalten, nachdem sie ihre Familie bringen - vor oder auf der Flucht durchgemacht haben. „Viele kommen zu uns und erzählen uns ihre Geschichten, die wir dokumentieren und nach und nach ins Englische übersetzen wollen“, berichtete Noha. Viele hätten Unvorstellbares durchgemacht: Darunter eine Witwe aus einem Dorf bei Kiew, die sich mit ihren fünf Kindern 12 Tage lang fast ohne Essen im Keller versteckt hielt. „Sie sah mit an, wie die Leute erschossen wurden, die fliehen wollten.“ Wie durch ein Wunder sei die Familie gerettet worden - und lebe mittlerweile in einer Flüchtlingsunterkunft im niederösterreichischen Waidhofen/Ybbs.

(kap – sk)
 

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04. April 2022, 14:20