„Grenzen nicht durch Missachtung der Rechte schützen“
Die COMECE-Bischöfe äußerten sich in einem Statement von Montagabend. Darin drücken sie ihr Beileid mit den Familien der Opfer – darunter auch zwei Sicherheitsbeamte - aus, fordern aber auch eine Identifizierung der Opfer und die Rückgabe ihrer sterblichen Überreste an ihre Familien. Die Geschehnisse müssten auf unabhängige und vertrauenswürdige Weise untersucht werden, so die Mitteilung, die durch COMECE-Generalsekretär Barrios Prieto unterzeichnet ist. Es dürfe nicht sein, dass die Europäische Union ihre Außengrenzen durch Gewaltanwendung und Missachtung der Menschenrechte sichere, appellieren die Bischöfe. Eine sorgfältige Überprüfung des Asylanspruchs müsse gewährleistet sein.
Am Freitag hatten marokkanische Sicherheitskräfte brutal auf den Versuch Hunderter Migranten – darunter viele Sudanesen - reagiert, die Grenze zur spanischen Exklave Mellila zu überwinden und so nach Europa einreisen zu können. Der Sonderbeauftragte der algerischen Regierung für die Sahara spricht von „schockierenden Bildern eines Massakers“ und der „unverhältnismäßigen Anwendung von Gewalt, die an echte Hinrichtungen im Schnellverfahren erinnert“. Videos, die von Aktivisten und Medien veröffentlicht wurden, zeigen Menschen, die unter der Aufsicht marokkanischer Wachen auf dem Boden kauern, darunter einige wehrlose und möglicherweise bereits leblose Körper. Andere Bilder zeigen marokkanische Polizisten, die am Boden liegende Migranten treten und schlagen.
Algerien klagt an
Algerien hat den UN-Flüchtlingskommissar gebeten, eine „unabhängige und transparente“ Untersuchung einzuleiten, die „die systematische Verletzung der Menschenrechte durch einen Staat belegen, der sich entschieden hat, gegen Bezahlung die Rolle der Polizei bei der ,ausgelagerten‘ Verwaltung der EU-Außengrenzen zu spielen“.
Auch der Vorsitzende der Kommission der Afrikanischen Union, der aus dem Tschad stammende Moussa Faki Mahamat, verurteilte „die gewaltsame und entwürdigende Behandlung afrikanischer Migranten“ und forderte eine Untersuchung der Tragödie. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hingegen bezeichnete die Tragödie als Folge eines „gewalttätigen und organisierten Angriffs von Mafias, die sich dem Menschenhandel verschrieben haben, gegen die territoriale Integrität unseres Landes“. Der spanische Premierminister drückte auch sein Beileid für die Opfer aus.
Die Grenze zwischen Marokko und den beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla war am 17. Mai nach mehr als zwei Jahren Unterbrechung wieder geöffnet worden. Zuvor war die Grenze unter anderem wegen der Corona-Pandemie geschlossen geblieben. Bereits Anfang März hatten rund 2.500 Migranten versucht, die Grenze gewaltsam zu stürmen. Rund 500 waren bei dem Versuch auf die andere Seite des Zauns gelangt. Spanien und Marokko hatten sich jüngst wieder einander angenähert, als Spanien zu verstehen gab, dass es ein Autonomiegebiet in der von Marokko besetzten Westsahara anzeptieren würde.
Beileidsbekundung der spanischen Bischöfe
Derweil fordern die Bischöfe der Unterkommission für Migration und menschliche Mobilität der spanischen Bischofskonferenz „humanisierende Schritte“, um diese neue Migrationskrise zu bewältigen. Angesichts der ernsten Vorfälle, die sich in der Vergangenheit sowohl in Ceuta als auch in Melilla ereignet haben, bringen die Bischöfe ihr Bedauern über den Verlust von Menschenleben zum Ausdruck und hoffen auf die baldige Genesung aller Verletzten. Verständnis äußern die Bischöfe jedoch auch für die Besorgnis der Bewohner der Grenzstädte. Sie hofften, dass die zuständigen Behörden zur Aufklärung der Vorfälle beitragen und geeignete Maßnahmen ergreifen würden, damit sie sich nicht wiederholen, so die spanischen Bischöfe.
Anschuldigungen gegen Marokko mit Vorsicht genießen
Marino D'Amore ist Professor für den Masterstudiengang Migrationsströme an der Universität Nicolò Cusano in Rom. Er erklärt im Interview mit Radio Vatikan die jüngsten dramatischen Ereignisse in Melilla vor dem Hintergrund der neuen Einigung zwischen Spanien und Marokko, die im Wesentlichen auf der Anerkennung der Rechtmäßigkeit der marokkanischen Besetzung der Westsahara durch Madrid beruht.
Spanien sieht nämlich neuerdings in dem 2007 vorgelegten marokkanischen Autonomieplan die ernsthafteste Grundlage für eine Lösung der Westsahara-Frage. Wegen dieser Kehrtwende der spanischen Politik arbeitet Rabat nun bei der Sicherheit und der Kontrolle des Migrationsdrucks enger mit Madrid zusammen. Im Vergleich zu einem ähnlichen Sturm auf Grenzanlangen in Ceuta vor ein paar Monaten habe die marokkanische Armee nun „energischer eingegriffen“, meint D'Amore.
„In diesem Fall steht die offizielle Version in einem gewissen Gegensatz zu Berichten von Augenzeugen und NGOs, die die Sache beobachtet haben. Auch die Zahlen der Verletzten und Toten sind sehr unterschiedlich.“
Vorwürfe wurden laut, Marokkos Sicherheitskräfte hätten Migranten bewusst zu Tode geprügelt. Die unbestreitbar harte Reaktion auf den versuchten Grenzdurchbruch sei jedoch im Licht des Abkommens zur Westsahara zu sehen, unterstreicht D’Amore.
„Eine solche Reaktion der Armee in Rabat ist auch das Ergebnis dieser Einigung - auch wenn auch Premierminister Sanchez sich gegen die Kritik internationaler Beobachter verteidigen muss, nach der auch die Guardia Civíl zu energisch eingegriffen habe. Aber paradoxerweise hat der Premier nicht von dieser Frage gesprochen und auch nicht auf den ständigen Druck durch die Migranten hingewiesen. Vielmehr hat er von einem gezielten Angriff durch die Mafiabanden gesprochen, die Menschenhandel betreiben, was meiner bescheidenen Ansicht nach etwas aus dem Zusammenhang gerissen ist.“
Algerien als Akteur in der Region
Besonders harte Anschuldigungen gegen Marokko kommen aus Algerien, ein Land, das allerdings selbst als Akteur mit gewichtigen Interessen im Westsahara-Konflikt einzuordnen sei, unterstreicht D’Amore. „Marokko als Ausführer schrecklicher Taten darzustellen, ist eine gute Gelegenheit, um seine Interessen vor der internationalen Gemeinschaft zu verteidigen, auch wenn wir sehr gut wissen, dass derart heikle geopolitische Fragen auf völlig andere Weisen gelöst werden müssten.“ Auch die Medien sollten sich bei der Darstellung dieses Konfliktes an die eigene Nase packen, meint der internationale Beobachter allerdings auch.
Ob wir solche Bilder wie die aus Melilla in Zukunft wohl nicht mehr sehen müssen? Da zeigt sich D’Amore skeptisch: „Wir müssen leider mit dem Üblichen rechnen. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass solche Vorfälle fremdgesteuert sind oder durch graue Eminenzen im Hintergrund hervorgerufen werden. Nein, es handelt sich um Fragen, die mit dem Selbsterhaltungstrieb zusammenhängen.“
Erklärungsmuster wie diejenige von Sanchez, der sich auf Menschenhändler berief, oder auch Elemente wie Terrorismus und ähnliches griffen einfach zu kurz, mahnt D’Amore: „Ich glaube leider, auch wenn ich das Gegenteil hoffe, dass wir uns wieder solchen Situationen gegenübersehen werden, denn wer dort war, wer das mit eigenen Augen gesehen hat, weiß sehr genau, dass derartige Aktionen aus der Verzweiflung geboren sind, aus dem Wunsch, sein eigenes Dasein zu verbessern – ein Dasein, das meistens durch Entbehrungen gezeichnet ist, durch Kriege, durch Flucht, durch Ungerechtigkeiten, durch schreckliche Gewalt… Und solange die Internationale Gemeinschaft nicht versteht, dass das vielleicht nicht der Hauptgrund, aber einer der Hauptgründe ist, solange wird es keine Lösung geben.“
(vatican news - cs)
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