Papst besucht Indigene: Zeugnis der Menschen und Orte
Marine Henriot - Edmonton, Kanada
1990 brachte Häuptling Phil Fontaine von der Versammlung der First Nations den Stein ins Rollen und prangerte zum ersten Mal öffentlich die Missbrauchsfälle in den von der kanadischen Regierung betriebenen und von der katholischen Kirche geleiteten Internaten der Ureinwohner an.
Seit Mai 2021 waren dann auf den Arealen solch ehemaliger Heime dank Bodenradaruntersuchungen mehrere Orte gefunden worden, an denen unmarkierte Gräber von mehr als 1.000 Kindern von Indigenen vermutet werden. Die dadurch ausgelöste Welle der Empörung rüttelte die kanadische und weltweite Öffentlichkeit wach: „In den letzten Jahren hat sich die kanadische Bevölkerung von einer sehr großen Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber den indigenen Völkern zu einer Öffnung gewandelt“, berichtet der kanadische Anthropologe und Indigenen-Experte Jean-François Roussel.
Wenn Papst Franziskus in diesen Tagen Indigene in Kanada besucht, trifft er eine traumatisierte Bevölkerung auf dem Land, das diesen Völkern Heimat und Ort des Schreckens zugleich war. Die Folgen der Gewalt, die Indigene in den Internatsschulen erlebten, sind noch Generationen später spürbar.
„Einige Einheimische haben ihre Verbindungen zu eigenen Familien und zur Gemeinschaft abgebrechen, weil es zu schwierig ist“, erläutert Jean-François Roussel dieses Trauma, „andere haben nie verstanden, warum ihre Eltern so wenig Liebe zeigten. Die Unsicherheit reproduziert sich über die Generationen hinweg. Es ist sehr schwierig, mit dieser Geschichte umzugehen, mit Reflexen, die man letztendlich nicht sehr gut versteht. Die betroffenen richten Scham und Wut gegen sich selbst“.
Indigen – und katholisch sein
Die katholische Kirche unterhält seit dem 17. Jahrhundert Beziehungen zu den indigenen Völkern Kanadas. Im Jahr 1998 wurde innerhalb der katholischen Bischofskonferenz von Kanada (CECC) der Katholische Rat der Ureinwohner Kanadas gegründet, um Informationen und Empfehlungen über die indigenen Gemeinschaften anzubieten und so einen Weg der Heilung zu beginnen. Die heute in Kanada drei anerkannten indigene Bevölkerungsgruppen machen nur vier Prozent der gesamten kanadischen Bevölkerung von 38 Millionen Einwohnern aus. Mit dem Begriff „First Nations“ werden die Völker bezeichnet, die vor der Ankunft der europäischen Kolonisatoren auf dem Gebiet des heutigen Kanada lebten. Die Métis, Mestizen, gingen aus der Begegnung zwischen Ureinwohnern und Europäern hervor. Die Bezeichnung Inuit meint hingegen die Völker der nördlichen arktischen Gebiete.
Im Jahr 2009 empfing Benedikt XVI. bei einer Sonderaudienz Vertreter der Ureinwohner unter vier Augen, wobei der bayerische Papst damals sein Bedauern über die Rolle der Kirche bei der Zwangsassimilation von Indigenen-Kindern zum Ausdruck brachte. Im anschließenden Vatikan-Kommuniqué ist die Rede von „Leid und Angst“ der indigenen Opfer und vom „bedauerlichen Verhalten einiger Mitglieder der Kirche“. Benedikt XVI. bot sein „Mitgefühl und seine Solidarität im Gebet“ an und unterstrich, „dass Gesten des Missbrauchs in der Gesellschaft nicht toleriert werden dürfen“.
Die kanadische Kirche ihrerseits entschuldigte sich offiziell im September 2021 und kündigte sechs Monate später die Einrichtung eines Fonds in Höhe von 30 Millionen US-Dollar an, um verschiedene Versöhnungsprojekte in ganz Kanada zu finanzieren.
Im Frühjahr 2022, als Franziskus über 150 Mitglieder einer indigenen Delegation im Vatikan empfing, brachte er seine Scham und Empörung zum Ausdruck: „Für das verwerfliche Verhalten der Mitglieder der katholischen Kirche bitte ich Gott um Vergebung. Ich will euch von ganzem Herzen sagen: Ich bin sehr betrübt, und ich schließe mich den Bischöfen an, euch um Entschuldigung zu bitten“, sagte er seinen Besuchern.
Auf der offiziellen Website der nationalen Organisatoren des Papstbesuchs heißt es heute: „Die katholische Kirche hat die Verantwortung, authentische und bedeutsame Schritte zu unternehmen, um die indigenen Völker dieses Landes auf dem langen Weg der Heilung und Versöhnung zu begleiten“.
Katholischer Glaube wichtiger Bezugspunkt
Elder Fernie Marty ist der Älteste von der Gemeinde des Heiligen Herzens der First Nations und wird Papst Franziskus am Montag in Edmonton begrüßen. Der strahlende Mann mit Pferdeschwanz und einem tiefen Blick bezeichnet sich selbst als Katholik und Indigener. Er wurde in Edmonton geboren und gehört zur First Nation der Papaschase.
„Ich fühle mich gesegnet, in diesen beiden Welten zu leben“, sagt er über seine Identität als Indigener und Katholik gegenüber Radio Vatikan, als er die letzten Vorbereitungen für den Empfang des Papstes trifft. „Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich bei meiner Geburt getauft wurde, und die Familie meiner Mutter hat dafür gesorgt, dass ich unserer indigenen Kultur nahe bleibe. Ich konnte diese beiden Kulturen, in die ich hineingeboren wurde, miteinander mischen“.
Laut der letzten großen kanadischen Volkszählung von 2011 bezeichneten sich 36 Prozent der Ureinwohner als Katholiken, 31 Prozent gaben an, keiner religiösen Gruppe anzugehören. Laut Jean-François Roussel und anderen Forschern ist diese Statistik „nicht sehr zuverlässig“, sei aber derzeit eine der wenigen verfügbaren Erhebungen zum indigenen Anteil der Katholiken. „Der katholische Glaube bleibt ein wichtiger Bezugspunkt in den Gemeinschaften der Ureinwohner und im Familiengedächtnis. Es gibt eine existentielle Dimension des christlichen Glaubens, eine Bindung an Christus mit lokalen Gemeinschaftsformen“, so Roussel.
Auch wenn einige Ureinwohner das Gefühl haben, von der Kirche verraten worden zu sein, werden in der Kultur der Ureinwohner der Respekt vor der Wahl- und Religionsfreiheit des Einzelnen sehr hochgeschätzt.
Land – ein wichtiger Teil indigener Identität
Die Territorien Kanadas, die als ursprünglicher Lebensraum der Indigenen gelten können, sind untrennbar mit dem Indianergesetz von 1876 verbunden. Auf diesem Land wurden 139 Internate errichtet, es wurde von der kanadischen Bundesregierung konfisziert und in Reservate aufgeteilt, „um das Indianerproblem zu lösen“, wie Jean-François Roussel referiert. Obwohl Alberta das traditionelle Gebiet der First Nations ist, machen die 138 Reservate heute nur etwas mehr als 1 Prozent der Gesamtfläche der Provinz aus und beherbergen die Mitglieder der 47 First Nations in Alberta.
Es sind Reservate, die mit erniedrigenden Bestimmungen errichtet wurden. Einige besagen zum Beispiel, dass diese enteigneten Gebiete für jede fünfköpfige Familie nicht mehr als 2,6 Quadratkilometer garantieren sollen. Viele Generationen von Ureinwohnern sind auf begehrtem, konfisziertem Land aufgewachsen. „Land ist mit einer leidvollen Erfahrung verbunden“, so der Indigenen-Experte Jean-François Roussel. „Die Internate wurden geschaffen, um die Mentalität der Kinder zu verändern, ihre Beziehung zum Land auszurotten und sie zu ganz normalen Kanadiern zu machen, die sich unter die anderen Kanadier mischten“.
Schließlich steht das Land auch für die Urmutter, die Heimstatt der Büffel, die Nahrungsquelle und Grundlage für das Nomadentum, bevor diese Tiere nach und nach verschwanden und in manchen Regionen Hungersnöte ausbrachen.
Für viele Indigene gehört zum Prozess der Heilung wesentlich das Zeugnis dieser Orte. Deshalb liegt es ihnen auch so am Herzen, dass der Papst nach Kanada kommt. „Ja, ich habe die Entschuldigung des Papstes in Rom gehört, und sie war wesentlich, aber es ist viel wichtiger, genau hier zu sein, denn hier ist alles passiert. Ich weiß nicht, wie die Heilung aussieht, von der man spricht… Aber was auch immer passiert, ich bin bereit, ihr zu folgen“, so der Gemeindeälteste Fernie Marty, der als Vertreter der First Nation der Papaschase Papst Franziskus am Montag in Edmonton erwartet.
(vatican news – henriot / pr)
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