Libanon am Limit: Die Kirche hat nie aufgehört, zu helfen
Stefanie Stahlhofen und Antonella Palermo - Vatikanstadt
Die Aufarbeitung läuft schleppend, deshalb gingen auch zum 2. Jahrestag des Unglücks am Donnerstag wieder viele Menschen im Libanon auf die Straße. Der Franziskaner Cesar Essayan ist Apostolischer Vikar von Beirut. Er beschreibt im Interview mit Radio Vatikan die aktuelle Situation:
„Die Bilanz fällt nicht sehr positiv aus. Viele versuchen, zu heilen. Wir tun, was wir können. In der Zwischenzeit sind mehrere Verletzte gestorben, die Zahl der Opfer ist also gestiegen. Viele Häuser wurden wieder aufgebaut, aber im Laufe der Jahre ist noch viel zu tun. Mehrere Personen warten immer noch darauf, dass ihre Verletzungen durch plastische Chirurgie im Gesicht behandelt werden. Das größte Drama ist jedoch, dass die Wahrheit über die Geschehnisse immer weiter in die Ferne rückt. Der Richter ist zunächst blockiert worden. Ob er seine Sache gut gemacht hat oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall führte diese Blockade dazu, dass die beteiligten politischen Parteien die Eltern der Opfer nach und nach in zwei Gruppen aufteilten: die Befürworter des Richters und die Gegner. Dies hat die Angelegenheit weiter vernebelt und die Möglichkeit erschwert, wirklich zu verstehen, was passiert ist, und zu sagen, wer verantwortlich ist."
Es geht nicht nur um die Explosion im Hafen
Aufklärung hatte auch Papst Franziskus erst am Mittwoch bei seiner Generalaudienz im Vatikan gefordert: Er bete dafür, „dass jeder Trost im Glauben finden möge, aber auch in der Gerechtigkeit und in der Wahrheit, die niemals versteckt werden darf!“, so die Worte des Kirchenoberhaupts. Damit stellte sich Papst Franziskus hinter Forderungen libanesischer Kirchenleute, die Hintergründe der Explosion von 2020 untersuchen zu lassen. Doch das ist längst nicht das einzige Problem im Libanon, berichtet uns Pater Essayan: Die Gesellschaft sei inzwischen wirklich tief gespalten, und zwar auf verschiedenen Ebenen: Etwa zwischen Christen und Muslimen aber auch zwischen Libanesen und Syrern:
„Es gibt eine weitere Spaltung in der Bevölkerung: zwischen denen, die in Dollar verdienen, und denen, die in libanesischer Lira verdienen. Diejenigen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, verdienen in Lira und kommen kaum über die Runden, wenn sie nicht von Verwandten im Ausland unterstützt werden. Andere verdienen ihr Geld in Dollar, Gastronomen. Es gibt nur wenige Menschen, die es schaffen, sich aufzulehnen, weil sie nicht mehr die Kraft dazu haben. Ganz zu schweigen von den steigenden Preisen aufgrund des Krieges in der Ukraine. Der Brotpreis ist beispielsweise auch extrem gestiegen. Und dann dürfen wir auch die Anwesenheit der Syrer nicht vergessen. Dies führt leider zu Spannungen mit den Libanesen. Es muss gesagt werden, dass den Libanesen Fehlinformationen vermittelt werden: Viele Libanesen sagen, dass die Syrer Hilfe in Dollar erhalten und daher sind sie verärgert. Dies ist jedoch nicht der Fall. Man muss aber auch sagen, wenn man in die Bäckerei geht, stehen die Syrer auf der einen Seite und die Libanesen auf der anderen Seite. Bei den Syrern kommt die ganze Familie, wenn sie z. B. zu fünft sind, nehmen sie fünf Portionen. Bei den Libanesen ist es üblich, dass nur der Vater oder die Mutter hingeht, und sie nehmen nur einen Teil. Dies sind Situationen, die Ressentiments und Spaltungen schüren. Nichts ist einfach. Es geht nicht nur um die Explosion im Hafen von Beirut, sondern um die Gesamtlage, die sich ergeben hat."
Die Kirche tut, was sie kann
Die katholische Kirche im Land ist laut dem Apostolischen Vikar von Beirut von Beginn an an der Seite der Menschen und tut auch weiterhin ihr Möglichstes, um das vielfältige Leid zu lindern:
„Das erste ist, den Menschen durch das tägliche Brot zum Überleben zu verhelfen: Etwas zu Essen. Die andere Priorität ist die medizinische Versorgung. In den Krankenhäusern spielt sich eine riesige Tragödie ab, denn nur wenige Leute können es sich leisten, die Kosten zu tragen. Es ist sehr teuer geworden, als ob es keine Wirtschaftskrise gegeben hätte. Alles ist sehr teuer geworden. Außerdem versuchen wir über Bildung zu helfen, aber Priorität ist aktuell, helfen zu überleben. Mehr als 40 Prozent der Menschen hier leben unter der Armutsgrenze und alle sind sehr, sehr müde, aber sie machen irgendwie weiter. (...) Am Hafen von Beirut haben wir nach der Explosion eine Anlaufstelle eingerichtet, dort gibt es warmes Essen und psychologische Hilfe für Kinder und Erwachsene. Die Zahl der Hilfesuchenden nimmt immer weiter zu. Am Anfang haben wir 70 Essen ausgegeben, jetzt sind es 300. Und das ist nur ein Beispiel. Das ist das Drama, das wir heute hier leben."
Der Staat lässt die Menschen allein
Die Regierung ist den Menschen aus Sicht des Ordensmanns übrigens keine Hilfe:
„Wir haben auch kaum noch Strom und Licht, alles läuft über Generatoren. Der Staat lässt alles so laufen, er meint, dass wir das alleine stemmen können. Die Bevölkerung verzeiht das dem Staat nicht. Es herrscht eine Beklommenheit, wie nie zuvor. (...) Die Kirche, die Weltkirche, hat nie aufgehört, allen hier im Libanon zu helfen. Mit der Ukraine-Krise gab es vielleicht etwas weniger Mittel, aber die Hilfswerke sind weiter hier präsent und aktiv und dafür ist dem Papst und dem Staatssekretariat und der Ostkirchenkongregation zu danken. Sie sorgen dafür, dass alles hier weiter verfolgt wird. Und es gibt auch viele europäische Staaten die uns helfen, die auch finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, damit wir unsere Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser etc. weiter betreiben können."
Dies alles macht Pater Cesar Essayan, dem Apostolischen Vikar von Beirut, neben seinem Glauben weiter Hoffnung. Und er ist überzeugt, dass irgendwann auch die Wahrheit über die verheerende Explosion am Hafen ans Licht kommen wird.
(vatican news-sst)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.