Vor 25 Jahren: Das Erdbeben von Assisi
Vor allem aber gingen Fernsehbilder der Oberkirche von San Francesco von Assisi um die Welt: Ein Teil des Gewölbes war eingestürzt, auch die berühmten Fresken des Giotto über das Leben des hl. Franziskus waren in Mitleidenschaft gezogen.
„Es war der dunkelste Moment, den ich in Assisi erlebt habe.“ Das sagt uns Bruder Enzo Fortunato – damals ein 31-jähriger Franziskaner aus Kampanien, später dann jahrzehntelang Sprecher des Heiligen Konvents. „In der Nacht gab es ein erstes starkes Beben, und wir dachten sofort, dass etwas Ernstes passiert sei. Wir sind sofort aufgestanden, um die Basilika zu inspizieren, haben aber nur eine leichte Staubschicht auf allen Bänken in der oberen Basilika festgestellt. Dann gingen wir schlafen…“
„Es war der dunkelste Moment....“
Am nächsten Morgen erfahren die Brüder von Assisi von den Schäden, die das nächtliche Beben anderswo in ganz Mittelitalien angerichtet hat. Sie sind „beunruhigt“, erinnert sich Bruder Enzo. „Als dem damaligen Kustos, Bruder Giulio Berrettoni, wegen des Staubs auf den Kirchenbänken Zweifel kamen, beschloss er, die Basilika zunächst einmal geschlossen zu halten. Daraufhin baten mich viele Journalisten, doch mal einen Blick in die Oberkirche werfen zu dürfen. Es gab auch einige Kritik an der Schließung der Basilika, denn September und Oktober sind zwei sehr belebte Monate für Pilger und Touristen in Assisi - das Fest des heiligen Franziskus ist ja am 4. Oktober.“
Bruder Enzo lässt vormittags ein Grüppchen von Journalisten in die Oberkirche, kommt auch selbst mit. Auf einmal bebt die Erde noch einmal. Und noch einmal.
„Der damalige Leiter des Zivilschutzes und der Generaldirektor des italienischen Erdbebeninstituts sagten uns: ‚Ganz ruhig, ganz ruhig, das ist nur ein Nachbeben‘. Wir waren etwa 24 Personen, darunter auch der damalige Bürgermeister von Assisi… und dann plötzlich dieses Gebrüll! Es schien, als würde jemand die Basilika vom Boden hochreißen. Ich wollte instinktiv nach draußen rennen, aber der Hausmeister packte mich mit der Hand und drückte mich an die Wand. Das war die Rettung, denn zuerst hatten wir direkt vor dem Altar gestanden, und jetzt sah ich, wie sich über dem Altar das Gewölbe öffnete. Die herabregnenden Trümmer erwischten uns ein wenig an den Schultern und Waden. Dann wurde es dunkel, es herrschte eine gespenstische Stille. Ich dachte, ich würde in dem Staub ersticken. Wir standen mitten im Schutt und den eingestürzten Fresken…“
Der Franziskaner und die meisten seiner Gäste schaffen es nach draußen. Doch ein Franziskaner, ein junger Postulant und zwei Techniker, die gerade die Schäden durch das erste Beben begutachten wollten, sind beim Teileinsturz des Gewölbes ums Leben gekommen.
Fast hätte es ein Massaker gegeben
Bruder Enzo ist heute noch, 25 Jahre später, erleichtert, dass die Basilika damals für Pilger und Touristen geschlossen war. „Das war eine weise Entscheidung, ich glaube, sie war von Gott inspiriert! Denn wenn die Basilika geöffnet geblieben wäre, hätte es ein Massaker, ein Gemetzel gegeben, denn um 11 Uhr haben wir in der Regel einen großen Besucherstrom. Aber wir hätten uns nie vorstellen können, dass ein so starkes, so verheerendes Beben kommen würde…“
Das zweite Beben von 11.40 Uhr ist noch verheerender als das in der Nacht zuvor. Es trifft viele Helfer, die die Schäden vom ersten Beben aufräumen wollen. 48 Gemeinden in Umbrien und den Marken sind betroffen; allein in Umbrien werden 33.000 Gebäude beschädigt. Zwei Wochen später, am 14. Oktober, wird die Erde ein drittes Mal beben, diesmal etwas schwächer; dabei stürzt in Foligno das Rathaus ein, eines der Wahrzeichen der Stadt.
Weltweit löst das Drama in der Stadt und Region des heiligen Franz von Assisi Bestürzung aus. Die Franziskaner treffen schon bald zwei wichtige Entscheidungen. „Erstens: Der Kustos beschloss zusammen mit der ganzen Gemeinschaft, das Grab des heiligen Franziskus trotzdem offen zu halten. Wir haben einen geschützten Seitenweg angelegt, damit jeder zu seinem Grab gehen konnte… Und zweitens gab es eine Ankündigung, die ganz Umbrien Hoffnung machte: Die Basilika wird wiedereröffnet. Man sprach von einer ‚Utopie-Baustelle‘, weil zunächst fast niemand daran glaubte… Das war eine wichtige Botschaft für Umbrien, die Marken und die ganze Region, denn Assisi ist nicht nur ein geistiger, sondern auch ein wirtschaftlicher Pol für ganz Mittelitalien.“
Die Herausforderung ist immens: Experten und Freiwillige müssen in der Oberkirche von San Francesco das größte Puzzle aller Zeiten zusammensetzen: mehr als 80.000 Fragmente von 130 Quadratmetern Fresken im eingekrachten Gewölbe, vom ‚Heiligen Hieronymus‘ von Giotto bis zu den ‚Vier Evangelisten‘ von Cimabue. Dank der geduldigen Arbeit von Dutzenden von Restauratoren und neuer Techniken zur Konsolidierung und Sicherung historischer Gebäude kann die Basilika Ende November 1999 wiedereröffnet werden. Aber es dauert bis 2006, um das Gewölbe ganz fertigzustellen.
Erst die Kirche aufbauen? Oder erst die Häuser?
So schmerzvoll diese Jahre für viele Menschen in ganz Mittelitalien waren, so lang es auch gedauert hat, bis alle wieder ein richtiges Dach über dem Kopf hatten – heute spricht man von einem „Wunder“ oder „Modell Umbrien“.
„Ja, ich glaube, dass der hl. Franziskus seine Hand bei diesem Wunder mit im Spiel hat. Aber es war auch möglich dank Tausender und Abertausender Freiwilliger, dank einer Solidarität, die aus der ganzen Welt kam, von Gläubigen und Nicht-Gläubigen, das war das eigentliche Wunder… Aber auch an Kontroversen rund um den Wiederaufbau mangelte es nicht. Ich erinnere mich vor allem an eine: Erst die Häuser und dann die Kirchen, oder erst die Kirchen und dann die Häuser?“
Der Streit wird durch die Intervention der Regierung geklärt, die deutlich macht, dass es Mittel für Häuser, für die Erdbebenopfer – und auch Mittel für das kulturelle Erbe gibt. Und dass es sich um zwei völlig unterschiedliche Bereiche handelt.
Auch eine geistliche Lektion
„Das andere Element, das Klarheit in diesen Streit brachte, bestand darin, den Menschen begreiflich zu machen: Die Sicherung und Wiederbelebung von Assisi ist auch für ganz Mittelitalien gut! Und das wurde dann auch bald verstanden, als mit dem Fortschreiten der Restaurierung und Instandsetzung der Basilika und der Öffnung zunächst der unteren und später der oberen Basilika die Pilger und Touristen allmählich wiederkamen.“
Was haben Assisi, Umbrien und die Marken in diesen 25 Jahren aus dieser Tragödie gelernt? Zunächst mal eine geistliche Lektion, sagt Bruder Enzo Fortunato. „Das Wissen, dass Gott uns nie verlässt. Wir haben seine Vorsehung, seine Hand, seine Nähe die ganze Zeit erlebt.“
Der Assisi-Mörtel und andere Erfindungen
Und dann noch eine „ganz menschliche Lektion“: Dass Menschen in solchen Momenten „zu großen Gesten, zu großer Solidarität“ imstande sind. „Wir bringen diesen Aspekt nur in schwierigen Momenten zum Vorschein“, so der Franziskaner.
„Und die dritte Lektion von Assisi ist, dass man immer wieder neu anfangen kann. Dass der menschliche Einfallsreichtum in der Lage ist, Dinge zu erfinden, die dann zum Erbe für die ganze Welt werden. So wurde zum Beispiel die Technik, die zum Schutz der Basilika eingesetzt wurde, anschließend für alle empfindlichen Realitäten der Welt kopiert. Man spricht etwa vom Assisi-Mörtel, der Erfindung eines speziellen Mörtels für Restaurierungen, der zu einem Vorteil für alle Restaurierungen in der Welt geworden ist.“
Last but not least: die Sicherheit. „Ich glaube, dass Umbrien und die Marken gelernt haben, umweltfreundlich zu bauen. Wer heute nach Umbrien und Marken kommt, sieht, dass das Gebiet besser geschützt ist.“ Den Beweis dafür hat die Region, hat auch San Francesco 2016 erbracht, bei der letzten großen Erdbebenserie…
(vatican news – sk)
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