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Alzheimer-Patient auf einer niederländischen Pflegestation am 10. Oktober - einen Tag vor seinem Tod Alzheimer-Patient auf einer niederländischen Pflegestation am 10. Oktober - einen Tag vor seinem Tod 

Frankreich: Kirche besorgt über Euthanasie-Debatte

Es knirscht wieder mal zwischen der katholischen Kirche in Frankreich und der Regierung von Präsident Emmanuel Macron. Diesmal geht es um das „fin de vie“, um Sterbehilfe und Euthanasie.

 Jean Charles Putzolu und Stefan von Kempis - Vatikanstadt

„Ich hoffe, dass die Stimme der Weisheit gehört wird. Damit die Stimme der Weisheit gehört wird, muss die Debatte wirklich demokratisch sein, d. h. sie muss alle Elemente des Themas objektiv ins Auge fassen.“

Das sagt Erzbischof Pierre D'Ornellas, Bioethik-Verantwortlicher der französischen Bischofskonferenz im Gespräch mit Radio Vatikan. Seine Äußerung zielt auf den Bürgerkonvent zum Thema Lebensende, den Macron eingesetzt hat. Seine 150 Mitglieder sollen, unterstützt von einem Experten-Komitee, Vorschläge für neue gesetzliche Regelungen in dem Bereich machen.

„Das Thema ist zu komplex für eine einzige Frage“

„Ich bin besorgt über die Frage, die den Mitgliedern des Bürgerkonvents gestellt wurde“, sagt der Erzbischof von Rennes. Tatsächlich lautet die Hausaufgabe, die Macron dem Gremium gestellt hat, so: „Ist der Rahmen für die Sterbebegleitung den verschiedenen individuellen Situationen angemessen, oder sollten Änderungen vorgenommen werden?“

„Das ist eine Frage, die sich nur auf individuelle Situationen bezieht. Man zieht nicht die einzelnen Gruppen in Betrachtung: die Pflegenden, die Betreuenden, all jene, die etwas beizutragen haben, weil sie pflegen. Mir scheint, dass das Problem so komplex ist, dass man die Überlegungen der Bürger nicht auf eine einzige Frage reduzieren kann.“

Sterbehilfe: Symbolfoto
Sterbehilfe: Symbolfoto

„Da ist etwas nicht demokratisch, da ist etwas nicht in Ordnung“

Bis Ende März 2023 sollen die Bürger aus dem Konvent Stellung nehmen. Die jetzige Rechtslage verbietet sogenannte aktive Sterbehilfe, also das Verabreichen von Substanzen mit dem Ziel, den Tod herbeizuführen. Auch Beihilfe zum Selbstmord ist verboten – bis jetzt. Daran will Macron offenbar herumschrauben.

„Ich habe (der Beauftragten aus dem Gesundheitsministerium) Agnès Firmin Le Bodo gesagt: Das Einzige, was wir uns von dieser Debatte erwarten, ist, dass sie streng demokratisch, d. h. objektiv verläuft. Und ich sagte ihr: Viele sind besorgt, weil die Debatte derzeit von Personen und Einrichtungen organisiert wird, die sich ausdrücklich für Euthanasie ausgesprochen haben. Da ist also etwas nicht demokratisch, da ist etwas nicht in Ordnung!“

Euthanasie, Macron, die Kirche - Interview mit dem französischen Erzbischof D'Ornellas, von Radio Vatikan

Der Mensch und seine Autonomie

Im Land der Menschenrechte, als das sich Frankreich gerne sieht, schielen viele auf andere europäische Länder. Die Niederlande und Belgien haben Euthanasie (der Begriff ist gängig und nicht, wie in Deutschland angesichts der Nazi-Verbrechen, negativ besetzt) schon vor zwanzig Jahren legalisiert, später Luxemburg, im vergangenen Jahr auch die Linksregierung in Spanien.

Spanische Euthanasie-Gegnerin bei einer Demo in Madrid, März 2021
Spanische Euthanasie-Gegnerin bei einer Demo in Madrid, März 2021

„Das ist eine Debatte, die von einem falschen Menschenbild geprägt ist, weil es die Autonomie des Menschen als absolut betrachtet“, sagt der Erzbischof. „Der Mensch ist aber nie absolut autonom. Er befindet sich immer in einer Beziehung. Und die Freiheit eines Menschen zu respektieren bedeutet, zu bedenken, dass er sich zunächst in einer wechselseitigen Abhängigkeit befindet.“

„Man will alles individuell kontrollieren, auch seinen Tod“

Interdependenz sei keine Schwäche, so Erzbischof D'Ornellas. „Es bedeutet ganz einfach, zu bedenken, dass der Mensch in der Endlichkeit lebt. Und deshalb sind wir alle aufeinander angewiesen. Wir alle brauchen diese Beziehungen. Wir alle sind glücklich in dieser gegenseitigen Abhängigkeit.“

Die Gesellschaft predigt allerdings den Individualismus, die Freiheit des Einzelnen; von gegenseitiger Abhängigkeit wollen viele nichts wissen.

„Man will alles individuell beherrschen, man will alles individuell kontrollieren, und daher will man auch seinen Tod kontrollieren. Dabei ist gerade dieser Moment der Verletzlichkeit, dieser Moment der Endlichkeit ein Moment, der zur Geschwisterlichkeit, zur Begleitung, zum Zuhören, zur Empathie aufruft.“

Und die Palliativmedizin?

Ein Gesetz werde nie „alle Situationen, alle Einzelfälle lösen“, sagt der Erzbischof in unserem Interview. Und er ruft nach einer Stärkung der schmerzlindernden Palliativmedizin: Das sei doch auch die Linie des Nationalen Ethikrates.

„Der Rat sagt sogar ausdrücklich, dass man keine Gesetzesreformen durchführen sollte, bevor man die Palliativmedizin nicht weiterentwickelt hat. Also, warum ist die Regierung auf diesem Ohr taub? Warum handelt sie nicht? Warum tut sie nichts für die Hospiz- und Palliativversorgung?“

Sind sich zuletzt vor einem knappen Jahr begegnet: Papst Franziskus und Macron
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Es gebe immer noch 26 Départements, in denen keinerlei Palliativmedizin angeboten werde. Das hält der Kirchenmann für einen Skandal.

„Steckt dahinter irgendeine Ideologie?“

„Das Gesetz vom Juni 1999 schreibt vor, dass jeder Bürger, der Palliativmedizin braucht, ein Recht auf Zugang zu ihr hat. Der Staat hat sich also in dieser Hinsicht ein schweres Versäumnis vorzuwerfen. Warum unternimmt er keine Anstrengungen in diesem Bereich? Warum wird diese Frage im Haushaltsgesetz, das derzeit im Parlament diskutiert wird, nicht angesprochen? Woher kommt das? Steckt dahinter irgendeine Ideologie? Gibt es da irgendwelche Vorurteile?“

Wenn er mit Pflegenden spreche, dann sagten ihm diese, sie fühlten sich sehr bereichert von ihrer Arbeit mit alten Menschen. Allerdings müsse man ihnen die Zeit geben, sich an ihr Bett zu setzen, ihre Hand zu halten und ihnen zuzuhören. Denn wenn ein älterer, schwacher Mensch sich ausdrücke, dann brauche er Zeit.

Wenn die Leiter von Pflegeheimen kündigen

„Und wenn die Mittel gekürzt werden, sagen mir die Leiter von Pflegeheimen: ‚Ich kündige, weil das nicht mehr meine Werte sind. Wir gehen in Richtung Misshandlung, und das lehne ich ab!‘ Warum hört die Regierung das nicht? Alle wissen es. Warum tut die Regierung nichts? Für mich ist das ein Rätsel. Ich verstehe es nicht.“

Wenn er die Chance hätte, mal mit Macron zu sprechen, dann würde er ihm genau diese Frage stellen, sagt der Erzbischof von Rennes: ‚Warum hört die Regierung nicht?‘

Macron bald im Vatikan

„Ich vermute, er würde mir antworten: Ja doch, es ist dringend notwendig. Und dass er sich für mehr Mittel im Haushalt einsetzen wird, um die Ausbildung von Pflegekräften und auch von Freiwilligen und Helfern zu finanzieren. Damit sich diese ganze geschwisterliche Gemeinschaft um die alten Menschen scharen kann, die Schätze des Lebens sind und die jetzt am Ende ihres Lebens stehen…“

Macron wird in ein paar Tagen zu einem Besuch im Vatikan erwartet. Kann gut sein, dass man den Präsidenten da auch auf das Thema Lebensende ansprechen wird.

(vatican news – sk)

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20. Oktober 2022, 10:32