Pater José Ignacio Fernández Pater José Ignacio Fernández 

60 Jahre Konzil: Die lateinamerikanische Perspektive

Was ist gelungen an der Umsetzung des Konzils, wo hakt es noch, welche Postulate wurden noch nicht eingelöst? „Wir sind noch mitten im Prozess der Rezeption des Konzils“, sagt uns ein Theologe von der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

Es ist der Dogmatiker José Ignacio Fernández aus Chile; sein Spezialgebiet ist die Ekklesiologie, also die Lehre von der Kirche.

„Ich glaube, da gibt es mehrere Wege, die noch offen sind und die uns noch viele Früchte bringen könnten für das Leben in den Ortskirchen“, so Fernández in unserem Interview sechzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vaticanums.

Was vorher keiner auf dem Schirm hatte...

„Wir wissen ja, dass eine große Wiederentdeckung des Konzils die Theologie des ‚Volkes Gottes‘ war; dass wir uns vor allem als Gemeinschaft sehen, die zusammen unterwegs ist, und uns nicht so sehr von unseren Funktionen, unseren Ämtern her definieren. Ich sehe, wie die Menschen heute nach Wegen suchen, um diese Gabe des Geistes in unseren Gemeinschaften zum Leben zu erwecken.“

Mit allem Möglichen habe man vor dem Konzil gerechnet – aber dass die hohe Versammlung im Petersdom die Kirche als „Volk Gottes unterwegs“ definieren würde, hatte kaum jemand auf dem Schirm gehabt, sagt Fernández. Hier habe das Konzil etwas wiederentdeckt, was absolut wesentlich für die Kirche sei – und das heute spannende Folge-Fragen aufwerfe.

Mit einer Messe hat der Papst am Dienstag 60 Jahre Konzils-Start gefeiert
Mit einer Messe hat der Papst am Dienstag 60 Jahre Konzils-Start gefeiert

„Wie aktivieren wir den Glaubens-Sinn?“

„Ich glaube, dass das Gespür des Gottesvolkes für den Glauben, der ‚sensus fidei‘, eine dieser Dimensionen ist, die wir gerade wiederentdecken… Wir Menschen hören, riechen, sehen – und in der Gesamtheit des Volkes Gottes haben wir auch einen Sinn für die Dinge des Glaubens. Dass wir merken, wenn der Heilige Geist spricht. Wie aktivieren wir diesen Sinn? Ich glaube, das ist eine der großen Herausforderungen von heute.“

Und genau diese ‚Aktivierung‘ des Glaubenssinns im Volk Gottes sieht der chilenische Theologe hinter der Intention des Papstes, eine Weltsynode abzuhalten – sozusagen ein Konzil des aufeinander- und auf den Geist-Hörens innerhalb des Gottesvolkes.

Lateinamerika als Vorreiter

Aus Fernández‘ Sicht ist Lateinamerika übrigens Vorreiter in der Kirche, wenn es um den Sinn für die Gemeinschaft und für den ‚sensus fidei‘ bei den Laien geht.

„Ich denke da an die Früchte der lateinamerikanischen Bischofsversammlungen: etwa die kirchlichen Basisgemeinden. Sie haben der Kirche viel Leben verschafft. Hier konnte man erfahren, dass jedes Mitglied der Kirche kraft seiner Taufe wirklich vollwertiger Teil der Gemeinschaft war, und Teil eines größeren Ganzen. Durch diese kleinen Gemeinden kam es auch zu einer guten Aufnahme und Verwirklichung der Liturgiereform des Konzils.“

Vor 60 Jahren, in St. Peter
Vor 60 Jahren, in St. Peter

„Ideologien hinter uns lassen“

Auch die „vorrangige Option für die Armen“, die Lateinamerikas Bischöfe 1979 in Puebla ausgesprochen haben, ist für den chilenischen Priester eine wichtige Frucht des Konzils. Seiner Überzeugung nach kann Lateinamerika diese „Früchte“ des Konzils in die Weltkirche einspeisen, ja tue das längst.

Lateinamerika und das Zweite Vatikanische Konzil - ein Interview von Radio Vatikan

„Wenn wir uns im Geist des Konzils wirklich als heiliges, gläubiges Volk Gottes begreifen, dann treten wir ganz konkret in die Dynamik des Heiligen Geistes ein. Und dann können wir Spaltungen und Ideologien hinter uns lassen… Es geht um einen Akt des Glaubens und um ein neues Zutrauen zum Heiligen Geist. Dann finden wir auch unseren gemeinsamen Glaubenssinn wieder; das ist eine Herausforderung für unsere Zeit!“

Vor 60 Jahren, in St. Peter
Vor 60 Jahren, in St. Peter

„Es sollte jetzt nicht hauptsächlich darum gehen, dass die Katholiken untereinander in Dialog treten“

Sechs Jahrzehnte nach Konzilsbeginn meint Pater Fernández, in der Kirche müsse jetzt vor allem die Taufwürde jedes einzelnen Christen neu entdeckt und gewürdigt werden. Dann werde es – auch wenn das paradox klinge – auch mit dem gemeinsamen Vorangehen im Volk Gottes besser klappen. Und von Nabelschau hält er nicht viel.

„Es sollte jetzt nicht hauptsächlich darum gehen, dass die Katholiken untereinander in Dialog treten – wir sollten vielmehr gemeinsam den Dialog mit anderen aufnehmen. So werden wir die Schönheit des Projekts Gottes wiederentdecken, eines Projekts der menschlichen Einheit, das eines der Fundamente unseres Glaubenslebens ist und das wir ‚Reich Gottes‘ nennen. Wie lassen wir es zu, dass Gott uns zu einem Leben in Geschwisterlichkeit mit anderen verhilft? Und da hat uns ja Papst Franziskus schon einige Hinweise gegeben, besonders mit den Enzykliken ‚Fratelli tutti‘ und ‚Laudato si‘‘…“

(vatican news – sk)
 

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12. Oktober 2022, 13:23