Syrien, und kein Ende? Syrien, und kein Ende? 

Ordensmann in Syrien: „Es gibt Tage, wo wir sehr müde sind"

Mehr als elf Jahre Konflikt haben in Syrien fast 400.000 Tote und 200.000 Vermisste gefordert. Aus dem Krisenland berichtet der Maristen-Bruder Georges Sabé, wie er und seine Helfer versuchen, dem allgegenwärtigen Tod und Leiden Taten des Glaubens und der Nächstenliebe entgegenzusetzen – ein Zeugnis aus einem Land, das aus dem Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden ist.

Adélaïde Patrignani und Anne Preckel – Vatikanstadt

„Der Tod hat uns und unsere Jugend sehr nahe besucht, er schien übermächtig“, formuliert der Ordensmann gegenüber Radio Vatikan. „Bis heute hängt sein Geruch in einigen Gassen der Stadt, in einigen zerstörten Gebäuden. Der Tod wollte uns auf den Weg der Verzweiflung führen. Er hat die menschliche Person zerstört, das Herz der Menschen, die Sicherheit, die Zukunft. Sogar unsere Familien, die gezwungen waren, sich über die ganze Welt zu verteilen. Zurück blieben viele, sehr viele alte Menschen, die ganz allein und verlassen sind, deren Kinder das Land verließen oder nicht mehr zurückkamen und die sich selbst überlassen sind“, berichtet Bruder Georges Sabé.

Die Maristen und ihre Helfer kümmerten sich unter anderem um die Versorgung solcher Menschen mit Nahrungsmitteln. So würden im Rahmen des Hilfsprojektes „Geteiltes Brot“ 250 Menschen über 80 Jahren täglich eine warme Mahlzeit angeboten, die von Jugendlichen überbracht werde. Taten der Nächstenliebe wie diese sind für Bruder Georges eine Art Triumpf über Leid und Tod: „Der Tod kann uns nicht besiegen. Wir können ihn mit unserem Glauben besiegen, aber auch mit unserem täglichen Handeln in der Welt, in der wir leben.“

Hier zum Nachhören

Kriegsfolgen, Corona und explodierende Armut

Syrien scheint sich in einer scheinbar endlosen Krise zu befinden. 400.000 Tote und 200.000 Vermisste forderte der mehr als ein Jahrzehnt dauernde Krieg. Von den ursprünglich 21 Millionen Einwohnern flohen 6,6 Millionen ins Ausland. 90 Prozent der verbliebenen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, die internationalen Sanktionen schwächen die Wirtschaft massiv. Georges Sabé wirkt seit 2012 in Aleppo. Seine Hilfsarbeit richtet sich auch auf junge Menschen, die keine Zukunft in Syrien sehen. Armut und Mangel seien erdrückend.

„Wir haben zwei große Krisen hinter uns: Erstens die Coronapandemie und all ihre Folgen. Die zweite und schwerwiegendste ist die wirtschaftliche Situation, mit einem Anstieg des Wechselkurses und gleichzeitig einer galoppierenden Entwicklung bei den Lebensmittelpreisen und einer stark sinkenden Kaufkraft.“

Die Kriegshandlungen seien zwar inzwischen begrenzter, die Zukunft Syriens sei aber weiter ungewiss, so der Ordensmann unter Verweis auf Macht- und Wirtschaftsinteressen, die an Syrien zerren.

Machtansprüche in Syrien

„Es stimmt, dass etwa Aleppo, Damaskus und mehrere andere Städte derzeit vollständig befriedet sind. Aber im Nordosten und Westen gibt es noch große Konflikte, etwa in Idlib. Dort gibt es keinen Friedenshorizont: Wie wird sich die Lage dort entwickeln, wird es eine politische Lösung, eine militärische geben? Es gibt einen enormen Interessenkonflikt zwischen den Großmächten und gleichzeitig regionalen Mächten wie der Türkei. Wir befinden uns also immer noch in einer Situation, die viele Fragen über Krieg und Frieden aufwirft…“

Die Türkei etwa erhebt Ansprüche auf die nordwestliche Provinz Idlib. Der Nordosten steht unter Einfluss und Verwaltung der Kurden, die über Ölquellen verfügen. Auch Israel führt in Syrien regelmäßig Angriffe gegen militärische Ziele der Hisbollah oder des Iran durch. Zudem werden zahlreiche Landstriche von kriminellen Banden oder Überresten des Daesh (IS) besetzt.

Mentalität der Abhängigkeit

Bruder Georges sieht für die Christen und seine Ordensgemeinschaft in Syrien den Auftrag, im Land zu bleiben, Not zu lindern und gesellschaftliche Brücken in einem Kontext zu bauen, der von Entbehrungen, Spannungen und Ungewissheiten geprägt ist. Die Menschen hätten diesen Krieg nicht gewollt, er sei ihnen „aufgezwungen“ worden, ist der Ordensmann überzeugt. Der Krieg habe die Syrer tief verändert und das Land in Abhängigkeit gestürzt. Dies sei fatal auch für die mentale Verfassung der Menschen.


„Der Krieg hat uns heute zu Menschen gemacht, die abhängig sind. Die syrischen Männer und Frauen waren vor dem Krieg keineswegs abhängige Personen. Sie waren Menschen, die aufstanden und versuchten, zu arbeiten, ihr Brot zu verdienen und ein würdiges Leben zu führen. Heute gibt es leider, unter anderem durch den Krieg, viele Mentalitäten, die sich geändert haben, Mentalitäten der Abhängigkeit. Dagegen muss man kämpfen, man muss an Bildung, an der Entwicklung der menschlichen Person arbeiten, um den Menschen diese Würde zurückzugeben. Damit wir uns sagen, dass wir in der Lage sind, aufzustehen und den Weg fortzusetzen.“

Im Dienst der Menschen

Er und seine Mitstreiter und Helferinnen versuchten ihr Möglichstes zu tun, um sich „in den Dienst der Menschen“ zu stellen, so der Ordensmann. Das sei nicht immer einfach, denn das vielfach erlebte Leid sei auch für Männer und Frauen des Glaubens belastend:

„Es gibt Tage, an denen wir sehr müde sind, Tage, an denen es wirklich so deprimierend ist, dem menschlichen Leiden zuzuhören, das sich in all diesen Geschichten immer wieder zeigt. Es sind Geschichten, die es wert sind, in unseren Gebeten und in unserem Blick auf den Herrn zu sein. Aber wir müssen den Weg erfinden. Man kann nicht die Arme verschränken und dastehen, sich beschweren und sagen: Seht ihr, wir können nichts mehr tun, es ist vorbei, wir müssen zusammenpacken und gehen... Ich glaube, dass es irgendwo eine Hoffnung gibt, einen Blick der Kirche, die uns mit viel Zuneigung, Liebe und Vertrauen anschaut, um uns zu sagen: Setzt den Weg fort, soweit es möglich ist.“

(vatican news – pr)
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

11. November 2022, 10:41