Prodi zum Ukraine-Krieg: Moralischer Aufbau wird schwieriger als materieller
Salvatore Cernuzio, Francesca Sabatinelli und Gudrun Sailer – Vatikanstadt
Die Rolle des Papstes und des Heiligen Stuhls im Friedensprozess in der Ukraine hält Prodi für „kompliziert, weil es wirklich einen Bruch in der Welt gibt", sagt der frühere italienische Ministerpräsident und EU-Kommissionschef Romano Prodi im Gespräch mit uns. „Vor allem wurde ein Klima des Hasses und der Spannung geschaffen, das den materiellen Wiederaufbau leichter macht als den moralischen und ethischen Wiederaufbau der gesamten Region."
Prodi zeigte sich enttäuscht darüber, dass „die beiden Giganten“ – gemeint sind die USA und China – sich bisher zurückhalten mit Bemühungen, beide Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. „Nur die Chinesen und die Amerikaner können den Krieg beenden", erklärte der Politiker. Elf Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine verschiebe sich die Front nicht mehr groß. „Jede Seite glaubt, sie könne gewinnen und die andere Seite vernichten. Es ist wie ein Grabenkampf. An diesem Punkt muss klar sein, dass der Rückgriff auf die Großmächte absolut notwendig ist".
Die Wiederherstellung der Einheit in Europa
Mit Sorge sieht der 83-jährige Prodi den „Machtverlust" der internationalen Gremien im Lauf der Jahre. Diese Entwicklung trage zu den Schwierigkeiten bei, über Verhandlungen auch nur ernsthaft zu sprechen. „Haben Sie bemerkt, dass die UNO in diesen Streitigkeiten nur eine marginale oder gar keine Rolle gespielt hat? Auch die Europäische Union hat ihre internationale Rolle in diesem Sinne verloren, oder besser gesagt, nie gehabt. Sie war ein wichtiges Beispiel für den Zusammenhalt, für den Frieden, für den Aufbau eines gemeinsamen Marktes - aber aus außenpolitischer oder gar militärischer Sicht gibt es Europa nicht".
Ein großes Bildungsprojekt Europa-Afrika
Hoffnung macht dem erfahrenen italienischen EU-Politiker ein großes universitäres Bildungsprojekt für junge Leute aus Europa und Afrika, das ihm am Herzen liegt. „Ich bin auf das Mittelmeer fixiert, das wir wieder zu einem Meer des Friedens machen müssen – das ist möglich!“, unterstrich Prodi. Es gehe darum, mit diesen jungen Menschen die verlorene Einheit zurückzugewinnen. „Wir brauchen 30 gemischte Universitäten, gleichberechtigt, mit einem Sitz im Norden und einem im Süden: Bari, Tunis, Barcelona, Rabat, Athen, Kairo. Mit der gleichen Zahl von Studierenden und Lehrenden im Norden wie im Süden, zwei Studienjahre im Norden und zwei im Süden... Wenn wir 500.000 junge Leute aus Europa und Afrika haben, die gemeinsam studiert haben, wird der Frieden im Mittelmeerraum hergestellt sein!“
Damit die Idee an Fahrt gewinnt, regte Prodi neue Institutionen an, wie etwa ein Erasmus-Austauschmodell zwischen Europa und Afrika. Über die Kosten des akademischen Mittelmeer-Bildungsprojekts hat der ausgebildete Ökonom Prodi klare Vorstellungen. Er habe selbst nachgerechnet: „Ein Kriegsschiff kostet mehr als sechs Universitäten“, sagte er in unserem Interview.
Neue Führung für Afrika
Prodi kennt Afrika gut, da er den Vorsitz der Arbeitsgruppe zwischen den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union für friedenserhaltende Missionen innehatte und eine Stiftung für die Zusammenarbeit der Völker ins Leben gerufen hat. Mit Sorge beobachte er den „kontinuierlichen Verfall" des zivilisierten Zusammenlebens in Afrika. „Meine Generation damals jubelte über die Demokratie in den afrikanischen Ländern, und dann trocknete diese Demokratie allmählich aus, demokratisch gewählte Führer verwandelten sich in autoritäre Führer, die nicht mehr gehen wollen. Daher ist die politische Lage in Afrika sehr ernst".
Die globalen wirtschaftlichen Interessen an der Ausbeutung des Kontinents seien da nicht unbedingt hilfreich, sagte Prodi. „Mit seinen 55 zersplitterten Ländern, mit einem immensen potenziellen Reichtum, einer katastrophalen politischen Situation, ist es klar, dass auf der einen Seite die Chinesen stehen, auf der anderen die Franzosen und die Amerikaner". Wenn Papst Franziskus in Kürze die Demokratische Republik Kongo und den Südsudan besucht, dann möge davon „eine Botschaft des Zusammenlebens in zwei der vier oder fünf am meisten verwüsteten Gebiete Afrikas" ausgehen, wünscht sich der Politiker.
(vatican news – gs)
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