Marie-Jo Thiel bei der Audienz mit Papst Franziskus Marie-Jo Thiel bei der Audienz mit Papst Franziskus 

Missbrauch: „Der Papst war sehr klar und deutlich in Bezug auf diese Fragen“

Missbrauch hat in der katholischen Kirche eine „systemische Dimension“ – aber die Kirche sollte vor dieser Feststellung keine Angst haben. Das sagt die französische Theologin und Missbrauchs-Expertin Marie-Jo Thiel in einem Interview mit Radio Vatikan.

Die frühere Präsidentin der „Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie“, die auch zur Päpstlichen Akademie für das Leben gehört, ist an diesem Montag von Papst Franziskus zu einem Gespräch empfangen worden. Einzelheiten über die Unterredung wurden nicht bekannt.

„Wenn man von der systemischen Dimension des Missbrauchs spricht, zielt das nicht so sehr auf die ‚heilige Kirche‘, auf das Geheimnis der Kirche; gemeint ist vielmehr, dass die Kirche ja auch eine Institution ist, und als solche gehört sie zur Kultur der Organisationen – in diesem Sinn hat der Missbrauch eine systemische Dimension. Das Wort hat vielleicht Angst gemacht, aber im Grunde beschreibt es lediglich die Realität dieser Komplexität, in der alles mit allem zusammenhängt.“

Für eine grundlegende Reform der Sexual- und Familienethik

Thiel spricht sich für eine grundlegende Reform der katholischen Sexual- und Familienethik aus, wie sie Papst Franziskus mit zwei Bischofssynoden und dem darauf aufbauenden Schreiben Amoris Laetitia von 2016 angeschoben hat. Die katholische Anthropologie „und die Normen, die sich daraus ergeben“, hätten lange „funktioniert“, würden aber heute von vielen nicht mehr verstanden.

Papst Franziskus bei der Generalaudienz vor einer Woche
Papst Franziskus bei der Generalaudienz vor einer Woche

„Und es wirkt so, als würde die Reform nicht stattfinden, weil sie sehr komplex ist: Man kann nicht einfach eine Disziplin bzw. eine Norm etwa auf der Ebene der Sexual- und Familienethik ändern, denn diese Ethik hängt auch mit dem Priestertum zusammen, mit der Vorstellung von Kirche, mit dem Amtsverständnis, dem Gemeindeverständnis usw., all diese Elemente sind untereinander verbunden. Natürlich ist es nicht so einfach, da etwas zu ändern, selbst wenn man Änderungsbedarf sieht. Das ist nicht selbstverständlich.“

„Ein Bischof muss sich mit Beratern umgeben“

Wichtig ist Frau Thiel, dass jetzt in einem Land wie Frankreich nach dem Schock der Missbrauchsskandale die Debatte darüber geführt wird, ob die Bischöfe nicht etwas von ihrer Macht „teilen oder delegieren“ sollten. Nicht selten hätten Bischöfe im Umgang mit Missbrauchsfällen Fehler begangen, weil sie sich nicht mit Fachleuten beraten hätten. Der Bischof verfüge in der katholischen Kirche über „die Fülle der Macht“, doch wisse und könne er nicht alles, „daher muss er sich mit anderen umgeben“.

Speziell die Kommunikation zum Thema Missbrauch in der Kirche brauche eine „verantwortungsvolle Transparenz“; Bischöfe machten es sich zu einfach, wenn sie sich darauf beriefen, Rom habe ihnen Geheimhaltung auferlegt, so Thiel mit Blick auf den Fall Michel Santier. Der Bischof von Créteil trat 2020 angeblich aus gesundheitlichen Gründen zurück; erst zwei Jahre später wurde bekannt, dass der wahre Rücktrittsgrund der Missbrauch von zwei Männern gewesen war. Das hatten die französischen Bischöfe dem Kirchenvolk allerdings verschwiegen.

Die Missbrauchs-Expertin und Theologin Marie-Jo Thiel im Interview mit Radio Vatikan

Die Laien nicht wie Kleinkinder behandeln

„Ich glaube also, dass die französische Bischofskonferenz und der Verband der Ordensleute die Laien nicht wie Kleinkinder behandeln dürfen! Es gibt nach meinem Eindruck manchmal noch eine starke Tendenz, die Laien so zu behandeln, als könnte man ihnen solche Nachrichten nicht zumuten. Dabei haben im Grunde die sozialen Netzwerke die Lage völlig verändert; in der Kirche findet nicht mehr einfach nur eine vertikale Kommunikation statt. Die Laien akzeptieren diese Form der Kommunikation durch die kirchliche Autorität nicht mehr, weil sie es ihnen nicht erlaubt, ihre Verantwortung als Getaufte wahrzunehmen.“

Die französische Bischofskonferenz berät bei ihren Vollversammlungen in Lourdes regelmäßig über den Umgang mit Missbrauchsfällen
Die französische Bischofskonferenz berät bei ihren Vollversammlungen in Lourdes regelmäßig über den Umgang mit Missbrauchsfällen

In einer ganzen Reihe europäischer Ortskirchen sieht Thiel noch immer „große Vorbehalte“ dagegen, Zahlen zu Missbrauchsfällen offenzulegen:

„Man denkt, dass man damit der Kirche schadet. Ich glaube hingegen, dass es für den Laien längst klargeworden ist, dass es das Phänomen Missbrauch nicht nur in der Kirche gibt. Jeder weiß doch, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist und dass die Kirche nicht besser ist als der Rest der Gesellschaft. Allerdings – von der Kirche erwarten wir mehr (als von anderen).“

„Wachsendes Bewusstsein im Volk Gottes“

Es falle der Kirche schwer, zuzugeben, dass „nicht alles dem Evangelium entspricht“, und die Reform, von der oben bereits die Rede war, ins Auge zu fassen. Dabei sei doch den meisten bewusst, „dass wir auf eine Implosion zusteuern, wenn wir nicht reformieren“, glaubt die Expertin. Sie habe mit Papst Franziskus „über diese Fragen gesprochen“. „Der Papst war sehr klar und deutlich in Bezug auf diese Fragen; er hat uns ermutigt, mit der grundlegenden Arbeit fortzufahren.“

In vielen Bistümern sei eine Menge geleistet worden, um gegen Missbrauch zu kämpfen und einen Kulturwandel herbeizuführen. Thiel sieht da „ein wachsendes Bewusstsein im Volk Gottes“; es habe „eine kolossale Transformation stattgefunden“, und es werde viel Konkretes getan.

„Es geht auch darum, dem vorzubeugen, was im christlichen Glauben, in der Funktionsweise der Kirche, in den Dienst des Missbrauchs gestellt werden konnte“

„All diese Elemente sind sehr wichtig, aber meiner Meinung nach nicht ausreichend – denn es geht auch darum, dem vorzubeugen, was im christlichen Glauben, in der Funktionsweise der Kirche, in den Dienst des Missbrauchs gestellt werden konnte. Und hier wartet eine grundlegende Arbeit, die auch teilweise schon von der französischen Bischofskonferenz und dem Verband der Ordensleute angefangen worden ist: in einer Reihe von Arbeitsgruppen, die auch an der Theologie, an der Sexual- und Familienethik arbeiten. Diese eher grundlegende Arbeit ist für mich genauso wichtig wie die Prävention.“

(vatican news – sk)
 

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15. Februar 2023, 12:07