Nigeria: Das Thema, das fehlt
Die Ordensfrau und Aachener Friedenspreisträgerin 2021 Schwester Veronica Ifeyinwa Adaeze Onyeanisi ist im Norden Nigerias offizielle Wahlbeobachterin. Sie beklagt im Interview mit dem katholischen deutschen Hilfswerk Missio Aachen, dass das Thema Frauen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen keine Rolle spielt.
Schwester Veronica ist Geschäftsführerin des christlich-muslimischen „Women Interfaith Council – Mütter für den Frieden“ aus Kaduna im Norden Nigerias.
Interview
Schwester Veronica, bei den Präsidentschaftswahlen treten mit Alhaji Bola Ahmed Tinubu (70) ein Muslim aus dem Süden für die regierende Partei APC und mit Alhaji Atiku Abubakar (76) ein Muslim aus dem Norden für die andere große Partei PDP an. Westlichen Medien zufolge sind sie die aussichtsreichsten Kandidaten. Was bedeutet es für die Christinnen und Christen in Nigeria, dass die beiden größten Parteien jeweils einen Muslim als Präsidentschaftskandidaten aufstellen, zumal bei früheren Wahlen auch immer Christen als Kandidaten aus dem Süden nominiert wurden? Was bedeutet das für die Christinnen und Christen im Land?
„Die Christinnen und Christen befürchten, dass es eine gezielte Strategie gibt, den christlichen Glauben an den Rand zu drängen und sie zu Bürgern zweiter Klasse in ihrem eigenen Land zu machen. Die Christian Association of Nigeria (CAN) äußert die Befürchtung, dass ein Teil der politischen Führung das Gespür für die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der nigerianischen Bevölkerung verloren hat. Die Interessen der Christinnen und Christen vor allem im Norden sind bei politischen Entscheidungen kaum beachtet worden, da der Norden im allgemeinen Bewusstsein eher als ein Land der Muslime wahrgenommen wird. Dabei ist die christliche Bevölkerung lediglich geographisch stärker zerstreut.
Deutlich zeigt die mangelnde Repräsentation von Christinnen und Christen ein Blick auf die Parteistruktur der Regierungspartei APC, in der es im gesamten Norden mit der Ausnahme eines stellvertretenden Sekretärs keinen einzigen Christen auf der Führungsebene gibt. Auch in der Bundesregierung Nigerias sind nur zwei Christen vertreten, die aus dem Norden stammen und Minister sind. Diese Beispiele zeigen, wie Christen aus dem politischen Raum der nationalen Regierung ausgeschlossen wurden.
Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1999 gab es eine Art stillschweigende Übereinkunft, dass sich in politischen Ämtern die Vertreter der verschiedenen Religionen abwechseln, um der Vielfalt an Religionen und Ethnien in Nigeria gerecht zu werden. So erwarten eigentlich die Christinnen und Christen, dass nach einer achtjährigen, zwei Amtszeiten umfassenden muslimischen Regierung in Nigeria auch bei uns im Norden stärker Christinnen und Christen politisch mit einbezogen werden, um den Menschen für das „Projekt Nigeria“ ein Bewusstsein von Partnerschaft und Zugehörigkeit zu vermitteln. Angesichts der tiefen Spaltung des Landes entlang religiöser Linien fällt es Christinnen und Christen eher schwer, daran zu glauben, dass ein muslimischer Politiker ihre Interessen angemessen vertritt.“
Welche Bedeutung hat es für den interreligiösen Dialog, wenn die beiden größten Parteien muslimische Kandidaten aufstellen?
„Die Tatsache, dass die beiden größten Parteien in einem Land, in dem es etwa gleich viele Christen und Muslime gibt, muslimische Präsidentschaftskandidaten aufstellen, zeigt einen Mangel an politischer Inklusion aller Gruppen an. Das könnte dazu führen, dass die Besetzung interreligiöser Plattformen und gleichgewichtigen Repräsentation aller Gruppen künftig schwerer werden.“
Neben diesen beiden Kandidaten ist auch der Christ Peter Obi aus dem Südosten Nigerias von der Labour Party ein Kandidat. In den westlichen Medien wird er als hoffnungsvoller Kandidat gesehen, vor allem für die Christinnen und Christen im Land. Wie schätzen Sie das ein?
„Peter Obi steht für einen Ausgleich zwischen den drei großen ethnischen Gruppen. Angesichts der Tatsache, dass ein Muslim kurz vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit steht, würden sich die Christen im Land Nigeria angenommener und repräsentierter fühlen, wenn ein Christ Präsident wird. Die meisten Christinnen und Christen im Land glauben, dass er frischen Wind bringen kann und er die größten Chancen bietet, damit das Land aus einem Sumpf gezogen werden kann, in dem immer wieder Politiker aus der gleichen Klasse an der Macht sind, die das Land seit der Unabhängigkeit regiert haben. Im Volksmund gelten die beiden großen Parteien im Land als zwei Seiten einer Medaille.“
Welche Rolle spielen die Rechte der Frauen in diesem Wahlkampf? Werden die Präsidentschaftswahlen etwas an der Situation der Frauen ändern?
„Im Wahlkampf sind die Kandidaten bisher nicht dadurch aufgefallen, dass sie den Schutz von Frauenrechten auf die Tagesordnung setzen. Der prozentuale Anteil von Frauen an den Wahlkandidaten ist in den vergangenen drei Wahlen weiter gesunken. Aus den Aufzeichnungen der Unabhängigen Wahlkommission geht hervor, dass 2015 der Anteil der weiblichen Kandidaten für den Senat und das Repräsentantenhaus 17 beziehungsweise 15 Prozent betrug. Im Jahr 2019 lag der Prozentsatz bei 12,3 Prozent für den Senat und 11,6 Prozent für das Repräsentantenhaus. Bei den Wahlen zum Senat und zum Repräsentantenhaus im Jahr 2023 standen nur neun Prozent Frauen zur Wahl, was den Mangel an Frauen in der Politik verdeutlicht. Der Präsidentschaftskandidat Peter Obi zeigt jedoch mehr Interesse als die anderen Kandidaten daran, den Status der Frauen zu erhöhen. In seine Wahlkampagne sind mehr Frauen und auf eine andere Art einbezogen.“
Welche Rolle spielen Ethnie und Religion in diesem Wahlkampf? Offenbar wird die ethnische und religiöse Zugehörigkeit immer wichtiger?
„In Nigeria sind die ethnische Zugehörigkeit und die Religion die wichtigsten Quellen für politische Stimmungen. Alle Präsidentschaftskandidaten haben ein politisches Programm, aber es wird nicht als Grundlage für den Wahlkampf verwendet oder von der Öffentlichkeit rezipiert. Der Wahlkampf ist vielmehr von persönlichen Angriffen und dem Aufgreifen ethnischer Ressentiments geprägt. Im Wahlkampf werden wesentlich nur Fragen der Zugehörigkeit zur Religion oder ethnische Gefühle befeuert und materielle Versprechungen eingesetzt, um politische Unterstützung zu gewinnen.“
Sind nach Ihrer Einschätzung rund um die Wahlen gewalttätige Ausschreitungen zu erwarten? Wie ist die Sicherheitslage?
„Die Wahlen in der Vergangenheit waren von Gewalt geprägt, da die Ergebnisse von Wahlunregelmäßigkeiten beeinflusst waren. Es ist nicht auszuschließen, dass es bei den Wahlen 2023 zu Gewalt kommen kann. Im bisherigen Wahlkampf gab es vereinzelte gewalttätige Übergriffe auf Parteianhänger, aber auch Drohungen mit körperlicher Gewalt und andere Formen der Einschüchterung. Dies deutet darauf hin, dass bestimmte Gruppen zu Gewalt greifen, wenn für sie das Ergebnis ungünstig ist. Die Unabhängige Wahlkommission hat jedoch neue elektronische Systeme für die Walkakkreditierung und Ergebnisübermittlung eingeführt, die das Wahlergebnis fälschungssicherer und nachvollziehbarer machen.“
Welches sind die drei wichtigsten Themen für die katholische Kirche in diesem Wahlkampf? Haben Sie den Eindruck, dass sie für die Präsidentschaftskandidaten eine Rolle spielen?
„Die katholische Kirche in Nigeria ist davon überzeugt, dass die derzeitige Lage im Land, die von schlechter Regierungsführung und wirtschaftlichen Problemen geprägt ist, durch eine bessere Politik verändert werden kann. Die Kirche ruft alle Gläubigen auf, in möglichst großer Zahl zur Wahl zu gehen und Politikerinnen und Politiker zu wählen, die integer sind, über gute fachliche Expertise verfügen und schon politische Erfolge für die Mehrheit der Menschen nachweisen können, um unser Land aus seiner derzeitigen soziopolitischen und wirtschaftlichen Flaute herausführen zu können – und das unabhängig von der Partei-, Religions- oder ethnischen Zugehörigkeit.“
Was erhofft sich die katholische Kirche in Nigeria von ihrem neuen Präsidenten?
„Die katholische Kirche hofft auf eine Verbesserung der Sicherheitslage sowie auf die Unterbindung der Aktivitäten von Terroristen und Aufständischen, Entführern und Banditen. Angriffe auf Reisende und Gläubige in Kirchen und anderen Gotteshäusern sind zu häufig geworden, und Priester sind nach wie vor Opfer von Angriffen.“
(missio aachen – sk)
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