Diesen Talar trug Jerzy Popieluszko, als er brutal ermordet wurde Diesen Talar trug Jerzy Popieluszko, als er brutal ermordet wurde 

Vor vierzig Jahren: Mord an Jerzy Popieluszko

Weltweit sorgte es für einen Aufschrei, als vor vierzig Jahren das polnische Regime den Priester Jerzy Popieluszko ermorden ließ. Der Kaplan der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność hatte regelmäßig „Messen für das Vaterland“ gefeiert, zu denen in der Hauptstadt Warschau Tausende von Menschen strömten. Wir erinnern an den unerschrockenen Polen, der längst auf dem Weg zur Heiligsprechung ist...

Warschau, ein paar Treppen unter die Erde, hinab in die Zeit des kommunistischen Regimes. Unter der Stanislaus-Kostka-Kirche besuchen wir das „Museum Jerzy-Popieluszko“ – benannt nach einem Priester, der 1984 vom Regime ermordet wurde. Blick zurück in eine Vergangenheit, die, so denken viele, noch gar nicht wirklich vergangen ist.

„Seine Geschichte rührt an die großen Fragen“

Pawel Keska, der Direktor, führt uns durch’s Museum. Neun Räume, 2004 eingeweiht. Er erzählt eine Geschichte von Glaube, Sturheit, Verrat. „Popieluszkos Geschichte rührt an sehr vieles: an die Geschichte Polens, an die Zeit des kommunistischen Regimes. Auch die großen Fragen – Wahrheit, Freiheit, Solidarität – werden hier verhandelt. Dabei war er ein ganz einfacher Mensch. Er war einer von uns, und jeder von uns kann so werden wie er. Es wäre sehr schwierig, wie Johannes Paul II. sein zu wollen, aber so wie Popieluszko kann jeder sein.“

Popieluszko
Popieluszko

Erster Raum: eine Mauer aus Akten aus den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. „Das sind die Akten, in denen der Geheimdienst in kommunistischer Zeit seine Informationen zusammentrug. Es gab eine eigene Abteilung, Abteilung 4, die sich nur mit dem Ausspähen der katholischen Kirche beschäftigte; etwa tausend Agenten waren für sie tätig. Zu jedem Priester gab es eine eigene Akte mit Informationen, die man zu gegebener Zeit gegen sie zu verwenden hoffte. Als Popieluszko bekannter wurde, geriet er immer stärker in den Fokus dieser Abteilung 4. Wir sehen hier die Akte zu Popieluszko und eine Art Anklageschrift gegen ihn: Man warf ihm vor allem vor, mehr Politik als Religion zu betreiben.“

Geheimdienst-Akten im Popieluszko-Museum in Warschau
Geheimdienst-Akten im Popieluszko-Museum in Warschau

Der Geheimdienst führte zu jedem Priester eine Akte

An der Wand gegenüber: Bilder und Gegenstände, die an den Kampf um Freiheit in Polen zur Zeit der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc erinnern. „Die Polizei versuchte zunächst, die ersten Streiks niederzuschlagen; als dann aber buchstäblich das ganze Land auf die Straßen ging, war das nicht mehr möglich. Die Kirche stand damals an der Seite des Volkes, das machte sie stark; Priester feierten für die Streikenden die Messe, nahmen ihnen die Beichte ab, lebten mit ihnen zusammen.“

Ein Sprung zurück in der Zeit. 1947, kurz nach dem Krieg. In der Provinz Bialystok wird Popieluszko geboren, im zweiten Raum des Museums wird heute seine Wiege gezeigt. „Wir sind jetzt in einem Bauernhaus in einem kleinen Dorf ohne Strom, ohne eigene Schule. Hier wächst Popieluszko auf, in einer sehr einfachen Familie. Nicht gebildet, aber gläubige Menschen, die sich an die Traditionen halten. Und Patrioten. Vier Geschwister; eine Schwester stirbt, als er noch ein Kind ist, die anderen drei leben heute noch. Jerzy ist der einzige, der auf die höhere Schule geht; er will von Anfang an Priester werden. Er besucht in Warschau das Priesterseminar. Die Reise dorthin ist seine erste größere Reise überhaupt, seine erste Bahnfahrt – er kommt wirklich aus einer sehr einfachen Familie…“

Pawel Keska zeigt uns eine Wohnung, in der Popieluszko in Warschau gewohnt hat
Pawel Keska zeigt uns eine Wohnung, in der Popieluszko in Warschau gewohnt hat
Vor 40 Jahren: Mord an Jerzy Popieluszko. Ein Audio-Feature von Radio Vatikan

Obwohl er Priesteramtskandidat ist, muss Popieluszko Wehrdienst leisten, zwei Jahre lang. „Zu beten oder sich irgendwie religiös zu betätigen, ist verboten; aber man bietet den Seminaristen an, sie könnten an einer Uni ihrer Wahl in Polen studieren, wenn sie das Seminar verlassen würden. Popieluszko wird oft von seinen Vorgesetzten in der Volksarmee bestraft, etwa weil er ihnen seinen Rosenkranz nicht aushändigen will. In diesen zwei Jahren schreibt er viele Briefe, und was an ihnen besonders auffällt, ist ihr optimistischer Tonfall; er beschwert sich nie.“

Der erste Riss im Sowjetsystem

September 1980: Ein Elektriker aus Danzig namens Lech Walesa gründet die Gewerkschaft Solidarnosc, die erste unabhängige im Ostblock. Hier wird Geschichte geschrieben – der erste Riss im Sowjetsystem tut sich auf. Rückendeckung bekommt die in Polen entstehende Opposition von ihrem Landsmann in Rom, dem polnischen Papst.

Solidarnosc-Zeitungen aus den frühen achtziger Jahren
Solidarnosc-Zeitungen aus den frühen achtziger Jahren

„Damals ist Popieluszko ein einfacher Priester mit wackeliger Gesundheit und einer Schwäche fürs Autofahren und fürs Reisen; er besucht Ost-Berlin und ist mehrmals in den USA. Ein Seelsorger zunächst für Studenten, dann in der Pfarrei, im Krankenhaus, unter Arbeitern. Ein Mann, der schnell Freundschaften schließt; vor kurzem hat man herausgefunden, dass er auch die Untergrundkirche in der Tschechoslowakei unterstützt hat. Seit 1980 ist er hier in dieser Pfarrei aktiv; der verantwortliche Pfarrer Teofil Bogucki notiert in seinem Tagebuch, der Neue sei ‚sehr scheu, einfach und ängstlich‘, er fragt sich, was er mit diesem Geistlichen anfangen soll, der nicht predigen möchte.“

Zeichnungen über Popieluszkos Schreibtisch
Zeichnungen über Popieluszkos Schreibtisch

Im Museum unter der Stanislaus-Kostka-Kirche steht heute Popieluszkos Schreibtisch, darüber hängen Zeichnungen der Schwarzen Madonna von Tschenstochau und der Solidarnosc-Schriftzug. Popieluszko ist 33; Kardinal Wyszynski von Warschau schickt ihn als Seelsorger zu den streikenden Arbeitern der Stahlfabrik Huta Warszawa. „Das sind einfache Leute, und auch er ist ein einfacher Mann; so finden sie schnell einen Draht zueinander.“

Der Priester wirft sich in die Schlacht

Dezember 1981: General Jaruzelski verhängt das Kriegsrecht – nicht zuletzt wegen des Drucks aus Moskau. Die Sowjets sehen die Freiheitsbestrebungen in Polen mit wachsender Sorge. „Während des Kriegsrechts darf abends keiner während der Sperrstunde mehr auf die Straße gehen, nur an Heiligabend. Popieluszko nimmt also am Heiligabend nach dem Abendessen Weihnachtsgebäck, bringt es den Arbeitern und bietet es dann auch Polizisten auf der Straße an.“

Ein postumes Popieluszko-Gemälde
Ein postumes Popieluszko-Gemälde

Der scheue Priester wirft sich in die Schlacht für seine Freunde, die Stahlarbeiter. Er sitzt jedes Mal demonstrativ, zusammen mit Unterstützern, im Zuschauerraum, wenn einer der Kumpel vor Gericht steht. Auf die Teilnahme an einem Streik droht laut Kriegsrecht die Todesstrafe, darum ist der psychische Druck immens. „Und dann beginnt Popieluszko, an jedem letzten Sonntag des Monats eine ‚Messe für das Vaterland‘ zu feiern. Zu diesen Messen kommen immer mehr Menschen, weil sich herumspricht, dass Popieluszko jemand ist, der schnörkellos die Wahrheit sagt. Damit gerät er aber auch immer mehr in den Fokus des kommunistischen Regimes, das ihn als gefährlich einstuft und ihn von einer eigens zusammengestellten Gruppe beobachten lässt.“

Popieluszko bei einer Messfeier
Popieluszko bei einer Messfeier

Videoaufnahmen im unterirdischen Museum von Warschau zeigen Popieluszko bei seinen „Messen fürs Vaterland“, hier in der Pfarrei. Beeindruckend, welche Menschenmenge sich um ihn drängt. Er selbst wirkt schüchtern, ein bisschen entrückt, predigt schnörkellos und eindringlich.

Massen-Messen für das Vaterland

„Die Geheimpolizei versucht ihm eine Falle zu stellen. In seiner Wohnung hier in der Nähe wird etwas Sprengstoff hinterlegt, dann wird die Wohnung offiziell durchsucht und der Sprengstoff gefunden. Daraufhin bestellt man Popieluszko mehrfach ein und verhört ihn, was ihn aber nicht weiter beeindruckt. Dann bekommt er Wind davon, dass man einen Autounfall fingieren will, bei dem er mit seinem Wagen in die Weichsel stürzt. Doch Popieluszko gibt trotzdem nicht auf. Zu seinen Messen für das Vaterland kommen mittlerweile unübersehbare Menschenmassen. Popieluszko wird nun auch für die Führung der polnischen Kirche zu einem Problem; die Kirche nämlich setzt eher darauf, hinter den Kulissen mit dem Regime zu verhandeln und ihm Zugeständnisse abzuringen. Popieluszko hingegen sagt einfach laut die Wahrheit. Bei Protesten berufen sich immer mehr Menschen auf ihn.“

Dieser Gang im Popieluszko-Museum erinnert an die Jahre des Kriegsrechts
Dieser Gang im Popieluszko-Museum erinnert an die Jahre des Kriegsrechts

Ein enger Gang im Museum beschwört die erdrückende Atmosphäre des Kriegsrechts herauf; Kreuze an der Wand erinnern an die Menschen, die in diesen zwei Jahren ums Leben gekommen sind. Dann sieht man an der Wand das letzte Foto von Jerzy Popieluszko, aufgenommen im Oktober 1984 in Bydgoszcz. Aus einem Lautsprecher kommen seine letzten öffentlichen Worte, aus der Predigt bei einer Messe mit Arbeitern: „Beten wir darum, frei zu werden von Angst, Rache und Gewalt“.

„In dieser letzten Phase seines Lebens hat Popieluszko begonnen, Freiheit anders zu verstehen als bisher. Das hört man seinen Predigten und Gebeten an – sie ändern sich, gewinnen an Tiefe. Popieluszko ist zu der Erkenntnis gelangt, dass uns Angst und Hass die Freiheit rauben. Und dass deswegen Vergebung der wirkliche Weg zur Freiheit ist. Die Menschen, die an seinen Messen fürs Vaterland teilnahmen, sagen übereinstimmend: Hinterher haben wir uns frei gefühlt.“

Die Stanislaus-Kostka-Kirche
Die Stanislaus-Kostka-Kirche

Grausamer Mord

Nach der Messe in Bydgoszcz fährt Popieluszko nachts mit dem Auto zurück nach Warschau. Da wird sein Wagen angehalten, drei Beamte nehmen den Priester fest. Elf Tage lang weiß niemand, wo er ist oder was mit ihm geschieht. „Die Menschen treffen sich jeden Tag in der Kirche, beten für ihn. ‚Bitte gebt uns Pater Jerzy wieder‘, steht auf diesem Schild hier. Sie versuchen, öffentlichen Druck auf die Kommunisten aufzubauen, damit diese Popieluszko wieder freilassen.“ Die Hoffnungen sind vergebens. Es ist ein Schock, als ein Priester bei einem Gebetstreffen für den Verschleppten ans Mikro der Stanislaus-Kostka-Kirche tritt und mitteilt: Popieluszko ist tot, man hat seine Leiche gefunden. Videobilder zeigen, wie die Menschen in der Kirche in Tränen ausbrechen.

Im Museum unter der Kirche erinnert ein Raum suggestiv an den Staudamm von Wloclawek, aus dem an diesem 30. Oktober 1984 die Leiche des unerschrockenen Priesters geborgen wird. Im Hintergrund plätschert Wasser; Fotos zeigen einen schockierend zugerichteten Leichnam, gefesselt, von Wunden übersät. Brutale Bilder – man kann kaum hinsehen. Das also ist der Preis, den Popieluszko für seinen Mut gezahlt hat. Ein hoher Preis. Viele Besucher des Museums fangen angesichts dieser Bilder an zu beten.

Popieluszko-Darstellung in seiner früheren Wohnung
Popieluszko-Darstellung in seiner früheren Wohnung

„Es war das einzige Mal zu kommunistischer Zeit, dass Männer des Regimes für einen solchen Fall verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Allerdings hat man ihnen dann die Jahre im Gefängnis wie Arbeitsjahre angerechnet, so dass sie ihre normale Rente bekamen. Sie leben noch; zwei von ihnen haben ihre Namen geändert, der dritte nicht.“

Polens größte antikommunistische Demo: die Beerdigung Popieluszkos

Das Regime will den Ermordeten in seinem Heimatdorf bestatten, damit es nicht zu Demonstrationen kommt. Doch Popieluszkos Mutter widersetzt sich. „Sie sagte: Er muss dort bei den Menschen sein, für die er gelebt hat.“ Fast eine Million Menschen kommen zur Beerdigung nach Warschau – es ist die wohl größte antikommunistische Demonstration in Polens Geschichte. Gleichzeitig aber – darauf legt Pawel Keska Wert – ist es eine Veranstaltung ohne Hass. Viele der Solidarnosc-Fahnen, die auf der Beerdigung geschwenkt werden, sind in dem unterirdischen Popieluszko-Museum zu sehen.

Solidarnosc-Banner vom Tag der Beerdigung Popieluszkos
Solidarnosc-Banner vom Tag der Beerdigung Popieluszkos

„Inzwischen wissen wir, dass nach Popieluszkos Tod eine Reihe von Agenten ihre Zusammenarbeit mit dem Regime einstellte und sogar sein Grab besuchte. Die Geheimpolizei führte eine genaue Statistik darüber, wie viele Menschen zum Grab kamen.“

Fünf Jahre nach Popieluszkos Ermordung stürzt das kommunistische Regime, Polen erringt seine Freiheit. In einem Seitenraum der Stanislaus-Kostka-Kirche wird der teilweise zerrissene Talar gezeigt, in dem die Leiche des Priesters aufgefunden wurde. Seliggesprochen wird Popieluszko erst 2010. Sein Grab liegt in einem kleinen Garten vor der Fassade der Kirche; Millionen von Menschen haben hier schon gebetet, darunter Papst Johannes Paul II.

Das Grab des Ermordeten
Das Grab des Ermordeten

Kein Happy-End

Ein Happy-End-Gefühl aber will sich nicht einstellen. Zum einen, weil in Polens Politik und Öffentlichkeit immer noch heftig über die Zeit des Kommunismus gestritten wird, über Mitläufer, Verräter, Spione. Aus den Akten des polnischen Geheimdienstes träufelt immer noch Gift, sogar den polnischen Papst hat es erreicht. Außerdem ist es für viele bitter, zu sehen, dass heute kaum jemand noch an Popieluszko denkt. Dass die so blutig errungene Freiheit Polens heute für selbstverständlich gehalten wird. Und schließlich gehen einem auch die Fotos vom furchtbar zugerichteten Leichnam des Priesters nach. Wer sie gesehen hat, denkt unwillkürlich: Dahin also hat Popieluszkos Standhaftigkeit geführt. Dem schockierenden Ernst dieser Bilder lässt sich nicht ausweichen – auch vierzig Jahre später nicht.

Johannes Paul II. betet 1987 an Popieluszkos Grab in Warschau
Johannes Paul II. betet 1987 an Popieluszkos Grab in Warschau

Die Sendung über Jerzy Popieluszko wurde im Juli 2023 erstmals vom deutschen Programm von Radio Vatikan ausgestrahlt. Sie ist Teil der Radio-Akademie Polen - Kirche im Umbruch von Stefan v. Kempis.

(vatican news)

 

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02. Juli 2023, 10:18