Iran: Rückkehr der Sittenpolizei als Feigenblatt?
Alexandra Sirgant und Christine Seuss - Vatikanstadt
In den westlichen Medien schlug die Nachricht hohe Wellen, dass dieselbe Sittenpolizei, die Mahsa Amini im September letzten Jahres verhaftet hatte, weil sie sich angeblich nicht an die Kleiderordnung der islamischen Republik gehalten hatte, in dem westasiatischen Land nun wieder auf der Straße zu sehen sein wird.
Die Ankündigung erfolgte am 16. Juli, auf den Tag genau zehn Monate nach dem Tod der jungen iranischen Kurdin. Die iranische Polizei hatte erklärt, dass die im Dezember aufgelösten Patrouillen wieder eingeführt werden sollten, um die wachsende Zahl von Frauen zu bestrafen, die an öffentlichen Orten keinen Schleier tragen. Seit den beispiellosen Demonstrationen nach dem Tod von Mahsa Amini haben iranische Frauen aller Altersgruppen und Schichten demonstrativ auf das Tragen des Schleiers verzichtet.
Konservative Kräfte zufriedenstellen?
Bernard Hourcade, ein auf den Iran spezialisierter Geograph und emeritierter Forschungsdirektor am CNRS, ist der Ansicht, dass es sich mit der Wiedereinführung der Sittenpolizei nicht unbedingt um eine Rückkehr zum Alten handelt, sondern eher um eine Ankündigung der Regierung, um auch konservative Kräfte zufriedenzustellen.
„Die radikaleren Kräfte haben erkannt, dass die Kopftuchgesetze im Iran extrem schwach sind, weil sie nur durch Dekrete geregelt werden“, meint Hourcade im Gespräch mit Radio Vatikan. „Nach der Tragödie von Mahsa Amini wurde ihnen auch klar, dass die Sittenpolizei extrem marginal und unkontrolliert ist. Also beschlossen sie, neue Gesetze zu erlassen und eine neue Sittenpolizei zu schaffen, die viel stärker strukturiert ist, unter Aufsicht steht und sich an die Vorschriften hält. Diese neue Sittenpolizei ist also seriöser, weniger anarchistisch, aber auch technologischer.“
Frauen spielen nicht mit
Dies betone auch der Polizeipräfekt von Teheran, der „ständig“ im Radio und im Fernsehen erscheine und dort ankündige, dass die Polizei nun mit Gesichtserkennung, Computern und anderen hochentwickelten Geräten Frauen aufspüren könne, die „nicht anständig gekleidet“ seien, berichtet Hourcade, der dennoch eine klare Meinung hat. „Aber das ist Augenwischerei, denn diese Sicherheitsreaktion, sie kann angesichts der Entschlossenheit der Iranerinnen heute nur begrenzt sein. Eine iranische Freundin, die ich gestern Nachmittag anrief, erzählte mir, dass sie gestern auf dem Weg zum Markt ihren Schleier nicht angelegt hatte. Als sie jedoch auf die Polizei traf, schaute diese weg. Die Polizei ist nicht daran interessiert, Zwischenfälle zu provozieren. Wir müssen über den symbolischen Rahmen hinausgehen, in dem Frauen in schwarzen Tschadors eine junge Frau auf den Straßen Teherans aufhalten. Das findet zwar immer noch statt, ist aber zu einer Randerscheinung geworden.“
Dabei spiele das politische Gefüge eine große Rolle, gibt Hourcade mit Blick auf mächtige religiöse Ultraradikale zu bedenken. Sie seien es gewesen, die für die Vergiftungen verantwortlich seien, die vor einigen Monaten Frauen und Mädchen in Schulen getroffen hatten: „Die sehr konservative iranische Regierung braucht diese Leute, um regieren zu können. Sie kann sie nicht völlig verärgern. Also befriedigt sie sie, indem sie sagt: ,Ich werde die Sittenpolizei mit außergewöhnlichen technologischen Mitteln umstrukturieren‘ und so weiter. So kann die Regierung sie zufriedenstellen und gleichzeitig kontrollieren. Dabei ist ihr bewusst, dass die Sittenpolizei in einem Land, das zweieinhalb Mal so groß wie Frankreich ist und 85 Millionen Einwohner hat, nur ein paar Dutzend Polizisten umfasst. Ja, es ist eine gefährliche und repressive Polizei, aber was können diese Polizisten gegen 40 Millionen Iranerinnen ausrichten, die ,Nein‘ sagen?“
Keine zweite Mahsa Amini
Offiziell habe die Sittenpolizei damit gedroht, Menschen ins Gefängnis zu stecken oder sie vor Gericht zu stellen, doch selbst das Justizministerium – das gegen diese radikale Politik sei - habe der Polizei Anweisung gegeben, die Personen, die gegen das Verschleierungsverbot verstießen, „mündlich“ zu ermahnen, ohne strafrechtliche Sanktionen vorzusehen: „Im Detail könnte man den Führerschein einziehen, man könnte jemanden auf die Wache bringen, aber es wird nicht über dieses Maß an Repression hinausgehen, denn selbst die radikalsten Mitglieder der Regierung haben verstanden, dass es für die Islamische Republik sehr schlecht aussehen würde, wenn sie zu weit gehen würden, wenn es eine zweite Mahsa Amini gäbe.“
Selbst das von den Konservativen dominierte Parlament sei heute in zwei Gruppen gespalten, beobachtet Hourcade: neben der sehr traditionsbewussten Gruppe um General Rezai, dem ehemaligen und repressiv orientierten Oberbefehlshaber der Revolutionsgarden, gebe es auch eine fortschrittlichere Gruppe unter dem Parlamentspräsidenten General Ghalibaf – seines Zeichens ebenfalls General der Revolutionsgarden: „Letzterer ist der Meinung, dass man nicht übertreiben sollte. Für ihn ist es wichtig, dass Frauen den Schleier tragen, aber nicht unter beliebigen Bedingungen“, analysiert Hourcade, der die Spaltung in der Gesellschaft an diesen beiden politischen Exponenten festmacht: „Innerhalb des Parlaments gibt es eine Spaltung zwischen zwei ehemaligen Revolutionswächtern, Ghalibaf und Rezaï. Diese beiden Persönlichkeiten verkörpern die beiden Strömungen des politischen religiösen Konservatismus: Der eine sagt, dass man versuchen muss, sich zu entwickeln, und der andere sagt, dass man stirbt, wenn man sich entwickelt.“
In nur zwei Monaten jährt sich der Tod von Mahsa Amini, die zum Symbol für die erlittene Unterdrückung und gleichzeitig zur Gallionsfigur für die Protestbewegungen im Iran wurde, zum ersten Mal, erinnert Hourcade: „Jeder erwartet, dass es zu Demonstrationen kommen wird. Die Regierung will auf keinen Fall 500 Tote und einen neuen, unkontrollierbaren Aufruhr riskieren. Und so zielt die Umstrukturierung der Sittenpolizei gerade darauf ab, dass die Repression ,effektiv‘ ist, also nicht tödlich und nicht zu gewalttätig. Aber ist die Islamische Republik in der Lage, ihre Polizei zu kontrollieren? Das ist eine Frage, die ich offen lasse.“
(vatican news)
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