Hilfswerk schlägt Alarm: Tunesien als Todeszone von Migranten
Olivier Bonnel und Christine Seuss - Vatikanstadt
Auch andere Länder, namentlich Algerien und Libyen, hatten unter dem Schweigen der Internationalen Gemeinschaft bereits zuvor eine ähnliche Praxis eingeführt. Auf verstörenden Videos wird die Situation der Menschen dokumentiert, die verzweifelt um Wasser bitten, offene Wunden sind zu sehen, auch Menschen mit offensichtlich gebrochenen Gliedern und Schlagspuren. Seit dem 2. Juli haben die tunesischen Sicherheitskräfte insgesamt mehrere hundert Migranten und Asylsuchende, darunter Kinder und schwangere Frauen, kollektiv in eine militarisierte Pufferzone an der tunesisch-libyschen Grenze abgeschoben.
Waren es zunächst etwa 20 Betroffene, seien in den vergangenen Tagen hunderte von weiteren Menschen dazu gekommen, berichtete Human Rights Watch. Salsabil Chellali leitet das Büro von Human Rights Watch in Tunesien. Im Gespräch mit Vatican News berichtet sie über die humanitäre Situation dieser afrikanischen Migranten: „Etwa 650 Personen wurden am 10. Juli wieder evakuiert und in Städte im Süden Tunesiens umgesiedelt. Aber auch heute gibt es immer noch Gruppen von Migranten, die sich in der Nähe der libyschen Grenze aufhalten, etwa 150, und mindestens etwa 250 auf der algerischen Seite der Grenze. Es sind auch Migranten, die in Sfax festgenommen und von den tunesischen Sicherheitskräften abgeschoben wurden. Beide Gruppen haben wirklich nur sehr begrenzten Zugang zu Hilfe, Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung. Und im Moment gibt es weder auf der libyschen Grenzseite für die verbleibende Gruppe noch auf der algerischen Grenzseite eine Aussicht auf Evakuierung und Umsiedlung.“
Es handelt sich vor allem um Migranten aus Subsahara-Afrika, deren Lage in dem nordafrikanischen Land sukzessive immer prekärer wurde. Die Menschen gaben übereinstimmend an, bei Razzien der Polizei, der Nationalgarde oder der Armee in und um Sfax, einer Hafenstadt südöstlich von Tunis, festgenommen worden zu sein. Der Tod eines Tunesiers, der am 3. Juli erstochen wurde, löste eine Welle der Gewalt gegen Migranten aus. Am 5. und 6. Juli kam es zu weiteren Abschiebungen in Wüstengebiete, darunter auch an die algerische Grenze.
Sich stetig verschärfender Ton
Diese neue repressive Episode ist Teil eines zunehmend angespannten politischen und sozialen Kontextes in Tunesien. Das Land, das zu einem der wichtigsten Ausgangspunkte für illegale Reisen nach Europa geworden ist, entwickelt unter seinem Präsidenten Kaïs Saed eine äußerst aggressive Anti-Migrations-Rhetorik. Migranten werden als Sündenböcke für die Probleme des Landes hingestellt, von einem friedlichen Zusammenleben wie in früheren Zeiten keine Spur mehr. Im Februar verstieg Saed sich gar zu der Behauptung, dass die Einwanderung Teil eines „kriminellen Plans zur Veränderung der demografischen Zusammensetzung“ seines Landes sei. Gleichzeitig geht er mit harter Hand gegen Kritiker seines Regierungsstils vor, der immer autoritärer wird.
„Es ist wirklich eine Fortsetzung der rassistischen Rhetorik, insbesondere an der Spitze des Staates, der repressiven Politik des Präsidenten und generell des Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit in Tunesien“, meint Salsabil Chellali mit Blick auf die Aussetzungen in der Wüste.
„Und heute ist diese Krise noch lange nicht vorbei, da man heute versucht herauszufinden, ob die tunesischen Behörden weiterhin kleine Gruppen abschieben oder nicht. Das ist etwas, das wir noch nicht feststellen konnten.“
Der Alarm von Human Rights Watch
Vor Ort konnte der Rote Halbmond den Abgeschobenen zumindest bei den dringendsten Bedürfnissen helfen, doch die Hilfe ist nach wie vor unzureichend. Die NGO Human Rights Watch ist mit verschiedenen Beobachtern vor Ort. Sie möchte die internationale Gemeinschaft auf das Schicksal dieser Migranten aufmerksam machen und fordert Zugang für Hilfsorganisationen zu den Leidenden.
„Wir fordern immer noch ein Ende der Abschiebungen und erinnern daran, dass verschiedenen Organisationen, nicht nur dem Roten Halbmond, der Zugang und die Versorgung ermöglicht werden muss. Heute braucht es mehr als nur eine Organisation, die Zugang erhält. Bisher haben die Behörden nur sehr wenig zu diesem Thema kommuniziert und nur dem Roten Halbmond Zugang zu diesen Gruppen an den Grenzen gewährt.“
Das Schweigen der internationalen Gemeinschaft in dieser Angelegenheit sehe sie als „sehr problematisch“ an, vor allem jedoch müsse die Europäische Union sich im Klaren darüber sein, mit wem sie im Bereich der Migrationskontrolle zusammenarbeiten wolle, so Chellali.
„Die Europäische Union will heute um jeden Preis eine enge Zusammenarbeit mit Tunesien im Bereich der Migrationskontrolle, und das trotz der sehr gefährlichen Rückschritte bei den Menschenrechten, aber auch trotz der wiederholten Angriffe auf Migranten und der Unberechenbarkeit von Präsident Saed, der von den Europäern scheinbar immer noch als ein Partner angesehen wird, dem sie vertrauen können. Was wir heute fordern ist, dass diese Beweise für Kollektivausweisungen die Europäische Union dazu veranlassen sollten, diese Zusammenarbeit zu überdenken und jegliche Finanzierung im Zusammenhang mit der Einwanderung auszusetzen, um sich nicht an solchen Missbräuchen mitschuldig zu machen oder mitschuldig zu werden.“
Angesichts des rauen herrschenden Tons sei es allerdings nicht allzu überraschend gewesen, dass sich die politische Rhetorik auch gegen die marginalisierte Gruppe der Migranten richten würde, meint Chellali abschließend:
„Was jedoch heute überrascht, ist, dass es keine internationale Reaktion gibt. Es entspricht der Logik des Präsidenten, angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Tunesien Sündenböcke zu finden, indem er mit dem Finger auf seine politischen Gegner zeigt und sie ins Gefängnis wirft, um sie zum Schweigen zu bringen, aber auch mit dem Finger auf Migranten zeigt und dafür sorgt, dass sie an die Grenzen zurückgeschickt werden. Und auch hier gilt, dass über all dies der Mantel des Schweigens gebreitet wird.“
(vatican news)
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