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Frauen in Kabul Frauen in Kabul  (AFP or licensors)

Afghanistan: Zwei Jahre Dunkelheit

Vor zwei Jahren haben die sogenannten „neuen“ Taliban die Macht in Afghanistan übernommen, nachdem US- und NATO-Truppen das Land verlassen hatten. Seitdem hat sich vieles verschlechtert, berichtet Stefan Recker von Caritas International in Kabul im Gespräch mit dem Kölner Domradio.

DOMRADIO: Wie groß sind die Veränderungen heute im Vergleich zu der Zeit vor der Machtübernahme vor zwei Jahren?

Stefan Recker (Büroleiter Caritas International Kabul): Die Veränderungen sind nicht so offensichtlich, wie man meinen könnte. Es laufen immer noch Frauen ohne Burka herum. Das ist anders, als man es vielleicht im Ausland glaubt. Die meisten Frauen nehmen anstatt eines Gesichtsschleiers eine Covid-19-Maske. Das erkennen die Taliban offensichtlich an.

Die Wirtschaftslage hat sich drastisch verschlechtert. Es gibt viele Bettler auf den Straßen, viele Tagelöhner, die keine Arbeit finden, Kinder, die betteln. Das sind die Haupt-Anzeichen für die verschlechterte Wirtschaftslage.

Die Menschenrechtslage und insbesondere die Lage der Frauen erkennt man erst auf den zweiten Blick. Das ist nicht so offensichtlich, wie man denken könnte.

Frauen in Kabul
Frauen in Kabul

DOMRADIO: Wie ist denn die Situation für die Frauen? Arbeiten dürfen sie ja kaum noch. Auch die höhere Schulbildung ist faktisch verboten worden.

Recker: Richtig, Schulbildung geht nur bis zum zwölften Lebensjahr, also bis zur sechsten Klasse. Das heißt, auch Universitätsstudiengänge, die noch stattfinden, werden irgendwann mangels nachfolgender Schülerinnen austrocknen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Frauen ist auch schlecht, wobei die Taliban sehr geschickt sind, wie sie sich verkaufen.

„Universitätsstudiengänge werden austrocknen.“

Wenn Sie im Land ankommen, kann es Ihnen passieren, dass die Passkontrolle von einer Polizeibeamtin gemacht wird. Oder die Sicherheitskontrolle am Flughafen kann auch von einer Frau durchführt werden. Aber Frauen dürfen zum Beispiel nicht mehr bei Hilfsorganisationen und auch nicht bei den Vereinten Nationen arbeiten. Ausnahme sind medizinische Projekte.

Jetzt haben die Taliban vor ein paar Wochen auch die vielen Schönheitssalons zugemacht. Das heißt also, gleich mal 60.000 weitere Frauen stehen auf der Straße. Das ist ein echtes Problem, nicht nur auf das Einkommen bezogen, sondern auch was das Selbstwertgefühl der Frauen betrifft.

Ich rede mit unseren Kolleginnen, die wir noch haben, die wir ein bisschen "versteckt" haben. Die sind natürlich extrem deprimiert, auch darüber, was sie von ihren anderen weiblichen Verwandten und Freunden hören.

Alltag in Kabul
Alltag in Kabul

DOMRADIO: Das heißt, Ihnen als Hilfsorganisation sind da auch die Hände gebunden, an der Lage der Frauen irgendetwas zu verändern?

Recker: Da können wir gar nichts machen. Wir sind gar keine Menschenrechtsorganisation in dem Sinne. Und selbst wenn wir das wären, wären wir nicht mächtig genug hier im Land, um gegen die Taliban aufzutrumpfen. Das ist auch überhaupt nicht unser Mandat Auch als Ausländer können wir uns ja hier nicht aufstellen und sagen: Wir sind dagegen. Die Taliban wissen, dass die meisten ausländischen Hilfsorganisationen eine andere Meinung haben als sie.

Wir versuchen, das wirtschaftliche Los zu lindern, vor allen Dingen durch Verteilen von Geld. Das ist das, was wir machen können. Aber das ist natürlich erstens nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und zweitens ändert das an der tatsächlichen Situation der Frauen wenig.

„Als Ausländer können wir uns nicht aufstellen und sagen: Wir sind dagegen.“

DOMRADIO: Wie viel kann denn Caritas International überhaupt noch als ausländische Organisation in dem Land helfen? Denn Sie haben auch angedeutet, die humanitäre Situation sei verheerend.

Recker: Wir sind eine humanitäre Hilfsorganisation. Das heißt, da sehen wir unser Hauptfeld. Wir arbeiten auch im sozialen Bereich, also zum Beispiel im Bereich Mutter-Kind-Gesundheit, Behindertenhilfe, wir führen über Partner psychosoziale Projekte durch. Aber wir machen eben auch Verteilungen, gerade von Geld an Bedürftige im Land.

In Kabul ist die schwierige Wirtschaftslage nicht so offensichtlich, auf dem Land ist es viel, viel drastischer. Da aber noch die Märkte funktionieren, ist das anders als während einer Hungerkrise, wie man sie in den 80er Jahren in Ostafrika hatte. Es ist einfach eine Frage der Verfügbarkeit von Einkommen. Da versuchen wir zu helfen, indem wir Geld nach bestimmten Quoten an bestimmte Gruppierungen verteilen.

DOMRADIO: Es gab ein wenig die Hoffnung, dass die "neuen" Taliban, die jetzt die Macht übernommen haben, ein bisschen gemäßigter sind. Hat sich diese Hoffnung mittlerweile zerschlagen?

„Moderate Strömungen unter den Taliban können sich leider nicht durchsetzen.“

Recker: Ja und nein. Ich habe das seltene Vergnügen, dass ich in den 1990 Jahren schon unter „Taliban 1.0“ in diesem Land gearbeitet habe. Es gibt schon große Unterschiede. Die „Taliban 1.0“ waren sehr viel homogener als die Taliban jetzt.

Es gibt mehrere Fraktionen bei den „Taliban 2.0“, die sich teilweise widersprechen. Aber sie lehnen sich auf keinen Fall gegen den Emir auf. Wenn der ein Dekret verlautbaren lässt, dann werden sich Gruppierungen, die man als „Anti-Emir“ sieht, nicht offensichtlich auflehnen. Daher stellt sich die Frage nicht, ob die Taliban konzilianter sind als damals.

Es gibt inzwischen verschiedene Taliban-Gruppen. Wie sie sich uns darstellen, sind sie genauso fundamentalistisch wie vor 25 Jahren. Es gibt zwar Strömungen innerhalb der Taliban-Bewegungen, die ein bisschen moderater sind, ein bisschen konzilianter, würde ich sagen, aber die können sich leider nicht durchsetzen.

DOMRADIO: Gibt es irgendetwas an der jetzigen Situation, bei der Sie sagen, das kann gerade den Afghaninnen noch ein bisschen Hoffnung für die Zukunft geben?

Recker: Es gibt immer noch Gruppierungen von Frauen, die sich gegen die Taliban auflehnen. Natürlich im Untergrund. Die 20 Jahre relativer Liberalität hier haben schon etwas bewegt. Es gibt immer noch viele Frauen, viele Frauengruppen, die mit dem Zustand nicht zufrieden sind, die sich mehr oder weniger öffentlich auflehnen.

Nur leider läuft das halt ins Leere beziehungsweise „in Gummi“. Wenn es irgendeine Demonstration gibt, lösen die die sofort auf, auch mit Gewalt, mit Wasserwerfern von Feuerwehrwagen, aber auch mit Gummiknüppeln, Schüssen in die Luft. Es ist aber sehr beeindruckend, wie sich diese Frauen trotzdem auflehnen. Das gibt mir Hoffnung. Ich hoffe, das gibt auch diesen Frauen Hoffnung.

DOMRADIO: Sehen Sie eine Chance, dass unsere Politik auf das Land irgendwie einwirken kann? Dass vielleicht auch wieder Hilfsgelder für die Menschen in Afghanistan fließen?

Recker: Es läuft aktuell nur die humanitäre Nothilfe. Das Problem ist, dass die Entwicklungszusammenarbeit seit zwei Jahren eingestellt ist. Das ist alles weggebrochen. Ich glaube erstmal nicht daran, dass das wieder wiedereingesetzt wird. Ich glaube auch nicht, dass in der nächsten Zukunft, innerhalb von einem halben Jahr, internationale Entwicklungszusammenarbeit fließt.

Das Interview führte Mathias Peter.

(domradio – mg)

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15. August 2023, 10:44