Rabbiner David Meyer: „Wir sollten kein Öl ins Feuer gießen“
Meyer ist Autor des Buches „La vie hors la loi - Ist es möglich, ein Leben zu retten?“; darin weist er darauf hin, dass der Schutz des menschlichen Lebens im Zentrum der historischen Erfahrung des jüdischen Volkes steht. Die mörderische Gewalt der Hamas gegen Israelis hat ihn zutiefst erschüttert. Wir fragten ihn nach seiner Sicht auf Krieg und Frieden im Heiligen Land.
Interview
„Es gibt natürlich die Realität des menschlichen Dramas, die Realität der absolut unendlichen Trauer, in der man sich befindet und die dazu führt, dass man dazu neigt, aus dem Bauch heraus zu reagieren – das spüre ich auch selbst. Aber ich sage mir, dass man jedenfalls als Rabbiner nicht aus dem Bauch heraus reagieren sollte. Man sollte sich um einen etwas distanzierteren Blick bemühen, selbst wenn man sich so nah fühlt. Für jemanden wie mich, der sich sehr für den Frieden einsetzt und versucht, Lösungen für den Dialog zu finden, sind die Ereignisse ein schwerer Schlag.
Wir haben mitten im 21. Jahrhundert ein Pogrom erlebt: etwas, von dem wir dachten, es gehöre einer endgültig überwundenen Vergangenheit an. Wir dachten auch, dass der Staat Israel der Ort des ‚Nie wieder‘ sei. Das bedeutet nicht, dass es nie wieder jüdische Tote gibt, das wissen wir sehr wohl; aber es bedeutet, dass es nie wieder eine Situation gibt, in der Juden machtlos sind. Was aber geschehen ist und was die israelische Gesellschaft auf längere Sicht erschüttern wird, ist, dass da israelische Juden der Gewalt auf einmal hilflos ausgesetzt waren. Das erinnert natürlich an Pogrome, aber in gewisser Weise auch an die Shoah – durch diese fehlende Fähigkeit, zu reagieren und zu schützen.“
Der Teufelskreis der Gewalt scheint eine Falle für alle Seiten zu sein...
„Natürlich besteht das andere Trauma darin, dass wir die militärische Antwort kennen. Militärische Antworten dieser Art schaffen Zerstörung. Das ist unvermeidlich ... Wir sind also in dieser Realität gefangen, diesem Zwang zu einer Antwort. Ich bin kein Pazifist im eigentlichen Sinne, man muss reagieren, man muss tun, was getan werden muss; aber gleichzeitig schafft man damit eine Situation, die katastrophal, menschlich entsetzlich und ethisch problematisch ist … Ist es möglich, dass es für diesen Konflikt keine Lösung gibt? Wir können doch nicht einfach akzeptieren, dass dieser Konflikt auf das Recht des Stärkeren hinausläuft!
Was können Menschen in den Religionen, die den Frieden wollen, jetzt tun?
„Ich denke, wir sollten noch ein wenig warten, denn heute sind wir nicht in der Lage, Frieden zu bringen. Unsere menschlichen Fehler haben uns in diese Situation gebracht. Wir können es jedoch vermeiden, Öl ins Feuer zu gießen. Das ist das erste, was man angesichts von Racheerklärungen tun sollte, die eigentlich absolut keinen Platz in der Politik eines demokratischen Landes und natürlich auch nicht im Judentum haben sollten…
Dann müssten wir wieder zu einem religiösen Denken finden, das die reale Dimension des Konflikts und der Geschichte einbezieht, um an der Realität dranzubleiben. Das sind schwierige Diskussionen und Überlegungen, vor allem wenn sich die Realität gerade ändert. Es gibt viele Ideen für einen möglichen Frieden, aber das setzt voraus, dass man einen Partner hat. Wenn wir es aber mit einem Pogrom zu tun haben, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die sich auf eine unbeschreibliche Art und Weise verhalten haben, und es daher auf dieser Ebene keinen Partner gibt, wie sieht es dann mit Lösungen aus?“
(vatican news – sk)
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