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Flüchtende im Gazastreifen - Aufnahme vom 10. November Flüchtende im Gazastreifen - Aufnahme vom 10. November  (AFP or licensors)

Für den Waffenstillstand der Gefühle: So blickt die Kirche auf den Nahost-Krieg

Die Freilassung der ersten Gruppen von israelischen Geiseln durch die Terrorgruppe Hamas ist „ein Zeichen der Hoffnung“, denn sie zeigt, „dass Verhandlungen möglich sind“: Das betont im Interview mit Radio Vatikan Francesco Patton, der Kustos des Heiligen Landes. In den letzten Tagen sind mehr als 50 Geiseln im Gazastreifen freigelassen worden, während Israel im Gegenzug Frauen und Minderjährige auf freien Fuß gesetzt hat, die in israelischen Gefängnissen eine Haftstrafe verbüßten.

Amedeo Lomonaco und Christine Seuss - Vatikanstadt

„Der Heilige Vater hat mehrmals darum gebeten, sogar in offiziellen Appellen beim Angelus, bei den Mittwochskatechesen und bei den Generalaudienzen. Der Waffenstillstand selbst ist also ein Lichtblick, denn nach über 14.000 Toten in Gaza als Reaktion auf die deutlich über tausend Toten, die der Hamas-Angriff verursacht hat, ist es klar, dass ein Moment des Waffenstillstands an sich schon eine gute Nachricht ist“, meint der Franziskaner Francesco Patton, Kustos des Heiligen Landes, in einem Interview mit Radio Vatikan.

„Die andere gute Nachricht ist die Freilassung der Geiseln“, so der Kustos mit Blick auf die mittlerweile über 50 Geiseln, die im Gegenzug zur Entlassung von 150 palästinensischen Häftlingen freigekommen sind. Damit bezieht er sich nicht nur auf die Freilassung der Geiseln, an sich schon „eine absolut gute Nachricht“. Doch diese Freilassungen wurden auf dem Verhandlungsweg erreicht. „Und das ist der andere Lichtblick. Es bedeutet, dass eine Verhandlung möglich ist. Wir müssten darauf hinwirken, dass der Waffenstillstand hält und dass alle Geiseln nach und nach freigelassen werden.“

Um dies zu schaffen, müsse man jedoch vor allem dafür sorgen, dass die Beteiligten „von der Sprache der Waffen zur Sprache der Verhandlungen“ übergingen, so der Kustos, der in Jerusalem lebt. In diesem Zusammenhang komme der internationalen Gemeinschaft und insbesondere einigen Staaten mit besonderen Beziehungen zu den Akteuren eine tragende Rolle zu, so Patton: „Das bedeutet, dass es möglich ist, einen anderen Weg als den der Waffen zu beschreiten, wenn der Wille dazu vorhanden ist“.

Ein Lastwagen mit humanitärer HIlfe für den Gazastreifen
Ein Lastwagen mit humanitärer HIlfe für den Gazastreifen

Verhandlungen sind möglich, wenn der Wille dazu besteht

Der aktuelle viertägige Waffenstillstand war durch Vermittlung Katars, Ägyptens und der Vereinigten Staaten für eine Freilassung israelischer Geiseln und humanitäre Hilfe erreicht worden und sollte an diesem Montag enden. Wie ein Sprecher der israelischen Regierung am selben Tag ankündigte, hat die Hamas jedoch die Option, den Waffenstillstand zu verlängern, wenn weitere Geiseln freigelassen werden.

Doch unabhängig davon bestehe die Lösung letztlich „nicht einfach darin, Geiseln oder Gefangene freizulassen“, betont der Kustos: „Sondern die Lösung muss, wie in den letzten Tagen mehrfach gesagt wurde, politisch sein, das heißt, es muss eine Lösung sein, bei der es einerseits eine gegenseitige Anerkennung des Existenzrechts Israels und der Palästinenser gibt, und andererseits diese gegenseitige Anerkennung des Existenzrechts dann auch eine politische - und ich würde sagen, staatliche Ausgestaltung - erfährt.“

Der Heilige Stuhl setzt sich wie auch die Vereinigten Staaten für eine Zwei-Staaten-Lösung ein, die den Palästinensern das Recht auf einen international anerkannten, eigenen Staat einräumen würde. Weltweit ist der Heilige Stuhl eines der wenigen Völkerrechtssubjekte, die Palästina offiziell als Staat anerkannt haben.

Palästinenserinnen im Gazastreifen flüchten in Richtung Süden
Palästinenserinnen im Gazastreifen flüchten in Richtung Süden

Stimme des Gewissens

Doch bei allem politischen Kalkül darf der humanitäre Aspekt nicht in den Hintergrund treten, appelliert Patton: „Ich würde sagen, dass die humanitäre Stimme aus einem ganz einfachen Grund absolut unerlässlich ist. Sie ist die Stimme des menschlichen Gewissens, während die diplomatische und politische Stimme auch Mittel und Wege findet, um Lösungen zu entwickeln, also die Existenz zweier Völker anzuerkennen. Die humanitäre Stimme ist jedoch die Stimme, die uns an den unvergleichlichen Wert eines jeden Menschen erinnert. Ohne die humanitäre Stimme kommen wir nicht weiter, weil sich alles nur auf Kalkül, Interessenabwägung oder Gewaltanwendung reduziert.“

Christen leisten wichtigen Beitrag

In diesem Prozess sei der Beitrag der Christen, ungeachtet ihrer geringen Anzahl im Heiligen Land, enorm wichtig und ähnlich demjenigen von humanitären Organisationen, meint Patton. „Sie müssen irgendwie das Gewissen repräsentieren, gerade weil sie eine kleine Realität sind. Die Rolle der Christen im Heiligen Land ist auch, eine Brücke zwischen zwei Realitäten zu sein, denn die Christen des Heiligen Landes gehören zu beiden. Wir haben Christen im Heiligen Land in Israel, wir haben Christen im Heiligen Land in Gaza, wir haben Christen im Heiligen Land im Westjordanland, in Palästina, wir haben also Christen auf der einen wie auf der anderen Seite. Es ist klar, dass die Christen eine Rolle spielen können, wenn auch eine begrenzte. Ich will nicht übertreiben, aber es ist dennoch eine wichtige Funktion. Wenn wir die Kategorien des Evangeliums verwenden wollen, ist es eher eine Funktion von Salz und Sauerteig als eine unmittelbar politische Funktion. Die Christen leiden doppelt unter diesem Problem, denn sie leiden einerseits intern unter einer Spaltung, unter einem Riss, und sie leiden andererseits unter den Folgen von Feindseligkeiten und sogar Kriegshandlungen auf beiden Seiten.“

Internationale Vermittlung in einem schwierigen Moment

Es brauche jedoch einflussreiche Stimmen nicht nur von christlicher, sondern auch von muslimischer Seite vor allem in Palästina, um einen gemeinsamen Weg der Versöhnung einzuschlagen, auch wenn eine solche momentan, unter dem Einfluss der starken Emotionen, noch in weiter Ferne scheine.

„In der Zwischenzeit ist es wichtig, dass der Waffenstillstand hält, dass die Geiseln freigelassen werden, dass auch die Zivilbevölkerung im Gazastreifen respektiert wird und dass diese Zeit des Schweigens der Waffen es den verschiedenen, nennen wir sie mal so, internationalen Influencern ermöglicht, so weiterzuarbeiten, dass der Waffenstillstand verlängert und zu einer Art von Waffenruhe wird, und dann so schnell wie möglich zu einer Form von internationalem Schutz zu gelangen, um die Sicherheit beider Seiten zu garantieren.“

Ohne politische Lösung fängt alles von vorne an

Damit sei es allerdings nicht getan, erinnert Patton, denn wenn es nicht unter internationaler Vermittlung zu einer politischen Lösung komme, dann werde sich die „gleiche Situation in ein paar Jahren wiederholen“:

Der Kustos des Heiligen Landes, Francesco Patton
Der Kustos des Heiligen Landes, Francesco Patton

„Der Abgrund, dem wir uns gegenüber sehen, hat einmal mehr das Grundproblem des Scheiterns einer politischen Lösung der palästinensischen Frage offenbart, die sich über Jahrzehnte hingezogen hat. Die palästinensische Frage und die israelische Frage sind eng miteinander verflochten, das heißt, es geht gerade darum, zu einer gegenseitigen Anerkennung des Existenzrechts zu kommen. Und ich würde sagen, es geht um zwei Völker, die im Laufe der Geschichte viel gelitten haben. Und ich glaube, dass gerade diese enormen Leidenserfahrungen die beiden Völker zur Anerkennung des gegenseitigen Leidens sowohl auf persönlicher als auch auf kollektiver Ebene führen sollte.“

„Wir müssen lernen, ihr Leiden anzuerkennen, und sie müssen lernen, unser Leiden anzuerkennen“

Ähnlich habe sich auch eine Vertreterin der Familien der israelischen Geiseln, Rachel Goldberg-Polin, in einem Interview mit dem L'Osservatore Romano geäußert, erinnert Patton: „Sie sagte: ,Wir müssen lernen, ihr Leiden anzuerkennen, und sie müssen lernen, unser Leiden anzuerkennen‘. Und auf diese Weise gibt es einen Schritt nach vorn, und ich glaube, dass die konkrete Lösung - ich kann nicht sagen, ob es die beiden Staaten sind oder etwas anderes - eine Lösung sein muss, die das Recht auf Existenz anerkennt. Von beiden Seiten muss es eine Anerkennung des anderen geben, eine Anerkennung des Existenzrechts des anderen, eine Anerkennung des Leidens des anderen.“

Sonst, so die Mahnung des Franziskaners, komme es nur zu weiteren „Verhärtungen“ auf beiden Seiten. Unterstützung von außen, durch die Vereinten Nationen und die Mächte, die den Konfliktparteien am nächsten stünden, sei dabei jedoch dringend geboten.  

„Und natürlich muss dies auch durch eine Form von, ich wage es zu sagen, progressiver Begleitung geschehen, denn man kann nicht von nichts zu allem übergehen, ohne dass es eine Form des Übergangs gibt. Denn es ist klar, dass sich in der Haltung eines Teils der israelischen Politik etwas grundlegend ändern muss, und es muss auch eine Änderung der Herangehensweise geben, die auf Seiten der palästinensischen Welt konkreter werden muss.“

(vatican news)

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27. November 2023, 13:58