ECOWAS-Austritt von Militärregierungen: „Neue Chance für Dialog“
Raoul Bagopha (Regionalreferent katholisches Hilfswerk Misereor für Afrika): „Das bedeutet mindestens dreierlei. Zunächst bedeutet es die Schwächung eines der besten Integrationsprozesse in Afrika und im speziellen in Westafrika. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS gehört zu den vorbildhaftesten Integrationsprozessen, die wir in Afrika haben, wenn man den Vergleich mit anderen Regionen heranzieht. Und dieser Rücktritt oder der Austritt wäre eine Schwächung dieses Prozesses. Und zweitens würde es bedeuten, dass Afrika zunehmend gespalten wird.
Wir haben schon eine Spaltung mit der Teilung von Sudan damals erlebt, und das würde jetzt eine weitere Spaltung bedeuten für Afrika, was auch eine Schwächung des Kontinents mit sich bringt. Und das hieße auch, dass Afrika erneut Terrain würde, auf dem Rivalitäten zwischen ausländischen Mächten ausgetragen würden. Das sind die Folgen, die wir für die Region und für den Kontinent befürchten.“
Radio Vatikan: Warum wäre dieser Rückzug denn auch für Europa höchst relevant?
Raoul Bagopha: Der Rückzug ist für Europa erstens deswegen relevant, weil wir über Afrika reden, und das ist ja der Nachbarkontinent. Und zweitens, weil wir festgestellt haben, dass die Diskussionen innerhalb der ECOWAS auch mit der Rolle Europas in dieser Region zu tun haben. Sie sollten vielleicht wissen, dass die drei Länder, die gerade ihren Austritt angekündigt haben, Mali, Burkina und Niger, vermuten, dass die europäischen Mächte, vor allem die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, hinter den Sanktionen stehen, die die ECOWAS nach dem Putsch in diesen Ländern gegen sie verhängt hatte. Und das bedeutet, dass diese Situation auch für Europa eine Gelegenheit darstellt, seine Rolle, seine Position, sein Bild in diesem Teil der Welt zu überdenken und vielleicht auch zu überprüfen, was bisher schiefgelaufen ist, dass der Ruf jetzt so schlecht ist, aber auch, wie man das wieder gut machen könnte, damit die Zusammenarbeit klappen kann.“
Radio Vatikan: Sie haben es angesprochen, die ECOWAS gilt als eines der wichtigsten und vorbildhaftesten Integrationsprojekte beziehungsweise Prozesse in Afrika insgesamt. Können Sie mir das ein bisschen genauer erklären?
Raoul Bagopha: „Sie haben ja in der Region 15 Länder. Die ECOWAS besteht also aus 15 Ländern und wir haben da eine sehr schöne Mischung. Wir haben französisch-sprachige Länder, also Länder, wo Französisch die Amtssprache ist und wir haben englisch-sprachige Länder, mit Englisch als Amtssprache, und wir haben dort auch portugiesisch-sprachige Länder. Das heißt, wir haben eigentlich hier Afrika im Kleinen in der Region, und es ist gelungen, alle diese Länder unabhängig von diesen historischen Erfahrungen im Zeitalter des Kolonialismus zusammenzubringen und deutlich zu machen, dass sie an einem Strang ziehen sollten. Und es ist auch gelungen, bestimmte Grundfreiheiten zu erzielen und zu garantieren. Darunter zähle ich den Personenverkehr, die Freizügigkeit, den Warenverkehr - das ist bei allen Schwierigkeiten besser gelungen als in anderen Regionen. Das ist die wirtschaftliche Seite.
Die politische Seite war so, dass man immer gesagt hat: Was den einen angeht, betrifft uns alle, das heißt, die Solidarität politisch zu organisieren, das war auch der Versuch der ECOWAS. Und es war auch wichtig zu sagen, bestimmte Grundwerte liegen uns am Herzen, zum Beispiel Menschenrechte, Demokratie. Und die ECOWAS hat angefangen, sich auch für Demokratisierungsprozesse zu interessieren in diesen Ländern. Und das ist auch in manchen Ländern gut gelungen.
Projekt der Demokratiserung
Wir haben leider innerhalb der Organisation mehrere unterschiedliche, zum Teil auch gegensätzliche Tendenzen gehabt. Auf der einen Seite klare Autokratien, auch Militärregierungen, und auf der anderen Seite auch noch ganz spannende Demokratisierungsprozesse oder auch Erfolge - parallel zu den Putschen, die wir da zum Beispiel hatten in Mali, Burkina und Niger oder zu den Spannungen, die wir im Moment haben im Senegal. Das sind alle Länder des ECOWAS. Und wir haben auch ein starkes Signal gehabt in der Region, einen beispielhaften Machtwechsel in Liberia, wo ein amtierender Präsident seine Wahlniederlage anerkannt hat und auch dafür gesorgt hat, dass der Machtwechsel friedlich abläuft.
Und das heißt, diese ECOWAS war die ECOWAS, die Liberia heute darstellt, aber die deswegen leider kaputtgegangen ist, weil das Projekt Demokratisierung, das Projekt Menschenrechte, daran gescheitert ist, dass bestimmte Länder - mit bestimmten Herausforderungen innenpolitischer Art konfrontiert - den Weg der Demokratisierung aufgegeben haben. Das hat Gründe, die man verstehen, aber die man nicht unbedingt akzeptieren kann.
Mali war zum Beispiel so ein Land, wo die Demokratie relativ gut gelungen war, aber wegen des Terrors auch eine bestimmte Unzufriedenheit herrschte und man vielleicht gedacht hat, man könnte besser mit Militärregierungen gegen den Terror vorgehen. Und das war es dann, was den gelungenen Prozess innerhalb Westafrikas geschwächt hat.
Ich glaube also insgesamt: ECOWAS, das war ein interessantes Projekt, das bleibt ein interessantes Projekt. Aber diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten stellen eine Herausforderung dar. Und die ECOWAS muss schauen, wie damit umzugehen ist, um den Weg dorthin wieder zu finden, wo man schon war, den Weg der gemeinsamen Werte und der gemeinsamen Anstrengungen.“
Mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft
Radio Vatikan: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, könnte dieser angekündigte Rücktritt der drei Militärregierungen ja vielleicht auch einen neuen Anschub für Dialog geben und für eine genauere Betrachtung der europäischen Verantwortung in diesem Kontext dienen.
Raoul Bagopha: „Das ist richtig. Wir sind der Meinung, dass das eine Chance darstellt, um die Beziehungen zu Europa auch neu zu gestalten. Europa sollte daher selbstkritisch überlegen: Was hat man bisher nicht richtig gemacht? Und das bedeutet für uns auch, dass man zumindest von Europa aus gesehen aufhört, sofort Position zu beziehen, wenn irgendwas in der Region passiert, bevor dort in der Region selbst überhaupt ein Kurs definiert wurde. Das heißt, eher die Politik der Zurückhaltung, zumindest was öffentliche Aussagen angeht.
Und das zweite ist, wenn man für bestimmte Werte eintritt, dass man das auch konsequent macht und die Doppelmoral vermeidet, hier das eine zu sagen und dort das andere - genau das Gegenteil - auch mit zu unterstützen. Parallel dazu – ich verlasse ein bisschen Westafrika und sage, warum das für Europa ein Problem darstellte in Westafrika. Wir haben einen Putsch in Mali gehabt und das hat zum Beispiel Frankreich scharf kritisiert und verurteilt, was viele Menschen in Mali auch verstehen konnten. Aber fast zeitgleich hatten wir einen Putsch im Tschad, und Frankreich war dort sehr kulant, wenn nicht sogar eher unterstützend. Der französische Präsident Macron war dort, was auch als Unterstützung des Putsches wahrgenommen werden konnte.
Klarer Kurs Europas wichtig
Das heißt, diese Erfahrungen sind nicht gut, wenn die Menschen merken, da wird nicht mit einem klaren Kurs gehandelt. Das heißt, man sollte diesen Weg der Doppelmoral, bei dem Eintritt für bestimmte Werte wie Demokratie und Menschenrechte, einfach auch vermeiden. Das dritte, was Europa tun kann, ist zu verstehen, dass es möglich ist, mit Dialog und mit Verhandlungen die Probleme in der Region zu lösen und dass die Menschen auch offen sind für Verhandlungen und nicht den Kurs der Sanktionen und des Zwangs, weil das eher schmerzhafte Erinnerungen hervorruft - Stichwort Kolonialzeit - was manche auch nur instrumentell einsetzen. Aber das ist trotzdem etwas, was man berücksichtigen sollte.
Das heißt, es ist auch noch möglich, mit Europa eine gute Zusammenarbeit zu erzielen und das wollen auch viele Menschen in der Region. Aber diese Grundprinzipien, diese Grundsätze, die sollte Europa auch beachten. Und dann ist, glaube ich, eine Annäherung wieder möglich. Und diese Krise innerhalb der ECOWAS, jetzt mit einem angekündigten Austritt, wird eine Chance sein, über solche Sachen nachzudenken und auch solche Sachen anzugehen.“
Europa muss die Afrikaner anerkennen
Radio Vatikan: Gibt es denn im Verhältnis zwischen Europa und Afrika noch einen weiteren Punkt, der Ihnen erwähnenswert scheint?
Raoul Bagopha: „Ja, zunächst einmal, dass wir dort mit einer sehr jungen und auch relativ gut vernetzten Bevölkerung zu tun haben, Stichwort Demografie, Digitalisierung oder Informationstechnologien. Und das bedeutet auch, wenn man hier über die Zusammenarbeit redet, dass Europa das anerkennt und weiß, das sind Menschen, die sehr kreativ und sehr intelligent sind, aber zum Teil auch sehr anfällig sein können für Desinformation. Und deswegen müsste man auch zunehmend in die Bildung investieren, damit hier nicht nur eine Medienkompetenz gewährleistet ist, sondern auch ein offener Dialog ohne zerstörerische Emotionen.“
Radio Vatikan: Vielen Dank für diese Einschätzung, Herr Bagopha.
Raoul Bagopha: Gerne.
Die Fragen stellte Christine Seuss.
(vatican news)
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