Türkei: Hintergründe des Anschlags vom Sonntag
Zwei Bewaffnete waren am Sonntag während der Messfeier in die Kirche eingedrungen; ein 52-jähriger Mann kam ums Leben. Dass der Überfall nicht noch mehr Todesopfer forderte, lag nach Angaben des türkischen Innenministers daran, dass die Waffen der Attentäter klemmten. Die Messe vom Donnerstagabend werden der päpstliche Nuntius in der Türkei, Erzbischof Marek Solczinskyei, und der Apostolischer Vikar von Istanbul, Bischof Maximilian Palinuro, zelebrieren.
Wir sprachen mit unserer Korrespondentin in Istanbul, Marion Sendker, über das Attentat. Hier sind ihre Einschätzungen.
Interview
Kann man sagen, dass der Anschlag überraschend kam?
„Zumindest in der Westtürkei hat es schon sehr lange keine Anschläge oder gewalttätige Angriffe auf Kirchen mehr gegeben; trotzdem kann man sagen, dass viele dieser Anschlag jetzt in Istanbul nicht besonders überrascht hat. Die Stimmung in der Gesellschaft ist seit Monaten schon sehr stark polarisiert, es gibt brodelnde Unruhen, und wir wissen zum Beispiel aus einem Gesetzentwurf der Opposition, dass aktuell in der Türkei mehr als 35 Millionen nicht registrierte Waffen im Umlauf sind. Rechnet man das jetzt mal pro Kopf herunter, bedeutet das, dass theoretisch im Durchschnitt mindestens jeder zweite Erwachsene in der Türkei mittlerweile bewaffnet ist.
Nun leisten die Geheimdienste im Land in der Regel gute Arbeit; doch kommen seit einigen Jahren nichtöffentlichen Schätzungen von Instituten zufolge immer mehr Menschen ins Land, die radikal sind. Sie stammen gerade aus streng muslimischen Ländern, in denen eben ein ganz anderer, strengerer Islam als in der Türkei die Norm ist. Und da ist zum Teil auch die Rede von Kämpfern, die aus Syrien, aus Afghanistan oder aus Pakistan einreisen. Die werden dann als Migranten oder als Geflüchtete gezählt, gehen dann in der Türkei aber ein bisschen unter…“
Womit hängt diese wachsende Unsicherheit und Feindseligkeit zusammen, von der berichtet wird?
„Ich muss sagen, ich selbst erlebe das anders: Ich erlebe keine Feindseligkeit gegenüber Christen, oder dass Christen sich unsicher fühlen. Auch in meiner Gemeinde war das bisher nie ein Thema, und auch privat und beruflich für mich selber nicht. Als Journalistin spreche ich auch mit Islamisten, oder zuletzt natürlich auch mit Hamas-Unterstützern in der Türkei. Dabei weiß ich zwar, dass diese Menschen mich als eine Ungläubige ansehen, aber gleichzeitig merke ich, wenn wir sprechen, dass sie Respekt vor mir haben, weil sie wissen, dass ich Katholikin bin – und weil ich eben auch wie sie an den einen Gott glaube.
Also in der Bevölkerung gibt es da, glaube ich, weniger Schwierigkeiten und weniger Feindseligkeiten. Das größte Problem ist, denke ich, dass es der islamisch-konservativen Regierung in der Türkei nur vordergründig um Religion geht. Islam ist ein politisches Tool, und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat in den vergangenen mehr als zwanzig Jahren, die er jetzt an der Macht ist, gewissermaßen den politischen Islam als Instrument zum Machterhalt für sich gefunden und weitestgehend etabliert. Das ging natürlich auf Kosten von säkularen Werten im Staat – und eben zum Teil auch auf Kosten einiger Freiheiten für religiöse Minderheiten. Ein Beispiel: das Priesterseminar von Chalki. Früher wurden da orthodoxe Priester ausgebildet, heute ist es geschlossen. Das hat aber, wie ich vermute, weniger rein religiöse als vielmehr politische Gründe. Und das sehen auch andere Beobachter so: Christen sind in dem Fall eher in einer Art politischen Geiselhaft oder werden zum Faustpfand der großen Politik; und in dieser großen Politik scheint es gerade viele Machtkämpfe im Hintergrund zu geben, die sich dann auch auf das öffentliche Leben auswirken können.“
Wie steht die Regierung zu den Christen?
„Nun ja, die Türkei hat seit mehr als zwanzig Jahren eine islamisch-konservative Regierung – aber fast alle Christen, die hier leben, sagen mir: Seitdem diese Regierung da ist, seitdem Recep Tayyip Erdogan an der Macht ist, geht es uns besser! Das wird oft damit begründet, dass die Regierung viel mehr, als das früher bei säkularen Regierungen der Fall war, ein Verständnis für Religion habe; früher hat es wohl mehr Einschränkungen gegeben. Der Anschlag hat nun in der ganzen Türkei für Entsetzen gesorgt: Vertreter aller Parteien haben den Angriff auf die Kirche direkt verurteilt, und die Regierung hat extrem schnell reagiert. Erdogan hat die Gemeinde sofort nach ein paar Stunden angerufen, per Telefon sein Beileid ausgesprochen; und sein Innenminister war schon wenige Stunden nach dem Angriff vor Ort an der Kirche.
Also, auch wenn diese Regierung Erdogan einen politisch-islamischen Schwerpunkt hat: Der Schutz von anerkannten religiösen Minderheiten hat immer noch Priorität in der Türkei, und ich denke, das hat etwas mit einem türkischen Reflex zu tun, das ist quasi die türkische Version des deutschen ‚Nie wieder‘. Denn in der Nacht auf den 7. September 1955 hat es in Istanbul ein Pogrom gegeben: Da machte ein Mob regelrecht Jagd auf nichtmuslimische Menschen. Griechen, Armenier, Juden wurden angegriffen, auch ermordet; und die Stimmung war damals in der Bevölkerung sehr angespannt. Man muss sagen, dass die Situation damals dem Staat, der Regierung einfach entglitten ist. Und diese Nacht gilt bis heute für strenge Muslime, aber auch für Nationalisten oder Atheisten diese als ein Schandfleck in der Geschichte der Türkei. Seitdem ist es dem Staat wahnsinnig wichtig, dass er nie wieder die Kontrolle verlieren darf und dass nie wieder Menschen anderen Glaubens so angegriffen werden dürfen.“
Inwieweit beeinflusst die innenpolitische und auch die Weltlage die Stimmung im Land?
„Die Türkei war immer schon ein gespaltenes Land, schon bei ihrer Gründung. Aber ich finde es auffällig, wie sehr gerade in den letzten Monaten die Frage in den Mittelpunkt rückt, ob die Gesellschaft einen säkularen oder eher einen religiösen Staat möchte, also säkulare Politik oder religiöse Politik. Es gibt seit ein paar Monaten fast wöchentlich irgendwelche Vorfälle dazu, zum Beispiel in Moscheen; zuletzt wurde wieder ein Imam angegriffen. Oder es gibt immer wieder Pro-Palästinenser-Demos, bei denen dann auch die islamische Flagge gehisst wird, was wiederum zu großen Diskussionen in der Gesellschaft führt, welchen Stand Religion, also der Islam überhaupt, haben soll. Gerade diese Diskussionen wirbeln die Gesellschaft aktuell noch mehr auf, führen zu noch stärkerer Polarisierung. Hinzu kommt ein Faktor, der wichtig ist, nämlich dass die Türkei gerade vor sehr wichtigen Kommunalwahlen steht. Und da gibt es eben auch nicht wenige Beobachter, die darauf hinweisen, dass schon häufig in der Vergangenheit vor Wahlen Anschläge passiert sind…“
(vatican news – sk)
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