Äthiopien: Dramatische Not in Tigray
Wolfgang Wedan: Ich habe dort hauptsächlich die Salesianer Don Bosco besucht, aber auch die Flüchtlingscamps der Inlandsvertriebenen, und die größten Probleme stellen sich da durch eine große Hungersnot. Die Leute haben wirklich nichts mehr zu essen, es sind speziell Kinder und alte Leute betroffen. Zurzeit verhungern Kinder in der Region von Shire, da sie keinen Zugang zu Lebensmitteln mehr haben. Das zweite große Thema ist Gesundheit. Es gibt praktisch keine Gesundheitsversorgung. Die Leute trinken Wasser aus den letzten Pfützen und es ist auch ein Choleraausbruch zu bemerken. Wenn man in die Flüchtlingslager geht, wo ich war, sind die meisten Menschen traumatisiert. Sie sind seit einigen Jahren dort. Die kleinen Kinder kennen nichts anderes mehr. Man schaut wirklich in leere Augen und in Hoffnungslosigkeit. Vor allem die Kinder sind traumatisiert.
Sie haben acht Camps für Binnenvertriebe gesehen. Wie muss man sich das Leben in diesen Flüchtlingslagern vorstellen?
Wolfgang Wedan: Es gibt keine Privatsphäre. Die Leute leben auf engstem Raum zusammen. Man unterstützt sich gegenseitig, wo es geht. Aber es fehlt an allem: Nahrungsmittel, Wasser, medizinische Versorgung. Ohne Hilfsorganisationen würden die Leute dort verhungern.
Laut Schätzungen sind in dem zwei Jahre währenden Konflikt in Tigray 700.000 Menschen getötet worden. Das würde einem Zehntel der Bevölkerung in dieser Region entsprechen. Was haben Ihnen die Menschen in Tigray darüber erzählt?
Wolfgang Wedan: Ja, die 700.000 sind die offizielle Zahl. Wir waren beim Bischof von Adigrat, Tesfaselassie Medhin, und er hat uns erzählt, die Dunkelziffer liegt bei bis zu 1,5 Millionen toten Bewohnern in Tigray. Es gab massive Massenvergewaltigungen, Massenerschießungen. 800 Jugendliche wurden einer nach dem anderen erschossen, nachdem sie gezwungen wurden, eine Fabrik auszuräumen. Und es wurde alles weggenommen, was die Menschen dort hatten. Es waren fürchterliche Kriegsverbrechen. Wir haben das nicht nur vom Bischof erfahren, sondern auch von hohen Repräsentanten in den Camps und von den Inlandsvertriebenen.
Gibt es irgendeine Vorform von Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen?
Wolfgang Wedan: Von Seiten von Äthiopien nicht. Da wird es negiert. Auch die Hungerkatastrophe, die jetzt ausbricht, wird negiert. Aber es gibt lokale News vor Ort und auch UN-Agenturen, die versuchen mit Traumaheilung speziell bei jungen Leuten, die die nächsten Generationen darstellen, hier aktiv zu werden, um das größte Leid zu lindern. Wer auch in diesem Bereich eine große Rolle spielt, ist die Kirche, die auch das ganz massiv anbietet.
Inwiefern verschärft der Klimawandel in Ostafrika die Situation der notleidenden Bevölkerung in Tigray?
Wolfgang Wedan: Da kommt ein spezieller Faktor dazu: Weil die Leute auf ganz engem Raum wohnen und nicht kochen können, findet eine starke Abholzung statt. Die Berge und Hügel in der Nähe, das ist nur noch Buschwerk. Man befürchtet - und es ist auch schon eingetreten aufgrund des Klimawandels -, dass es Regen gibt in Zeiten, wo es nicht regnen sollte. Und jetzt, aufgrund der aufkommenden Dürre, trocknen die Brunnen aus und versalzen. Das bewirkt der Klimawandel und speziell die Abholzung, befürchten viele. Wenn jetzt ein Regen kommen sollte, kann der Boden das Wasser nicht mehr aufnehmen, die fruchtbaren Böden werden weggewaschen. Das heißt, man weiß ganz genau: In den nächsten Jahren kommt eine fürchterliche Umweltkatastrophe auf dieses Gebiet zu.
Herr Wedan, warum ist die extreme humanitäre Notlage in Tigray von der Welt derart vergessen?
Wolfgang Wedan: Das Land hat keine Bodenschätze. Der einzige Fehler von Tigray war, dass die Menschen selbstständig sein wollten und sie wurden von beiden Seiten angegriffen. Die Regierung in Addis Abeba – wir haben auch dort Gespräche geführt - bestreitet, dass dort Kriegsverbrechen begangen wurden, dass eine Hungerkatastrophe ist, dass ein Klimawandel dort stattfindet, um es nicht in die Medien zu bringen. Meine Erfahrung ist, wenn etwas nicht in den Medien präsent ist, verschwindet es auch aus den Gedanken der Menschen. Tigray ist eine vergessene Krise, so wie viele andere.
Sie haben erwähnt, die Kirche spielt eine Rolle, den Menschen zu helfen, auch bei den ersten Schritten der Aufarbeitung des Genozids. Gehört die Kirche zu den wenigen verlässlichen Realitäten, die immer noch da sind? Wie nehmen die Menschen das wahr?
Wolfgang Wedan: Da gebe ich Ihnen vollkommen recht: In Zeiten des Krieges, also zwischen 2020 und 2022, waren die einzige katholische NGO, die vor Ort geblieben war, die Salesianer Don Boscos in ihren vier großen Einrichtungen in die Kirche. Auch der Bischof von Adigrat hat sich selbst unter lebensbedrohlichen Zuständen geweigert, das Land zu verlassen. Die sind geblieben, als fixer Anker für die notleidenden Bevölkerung. Und viele wissen: Nicht nur Christen, auch Moslems und Orthodoxe können bei der katholischen Kirche Zuflucht finden. Zum Beispiel in Adwar ist ein großes Krankenhaus der Don Bosco Schwestern, die alle behandeln, wo alle Zuflucht und auch Trost finden. Die Salesianer speisen stillende Mütter und Kinder, jeden Tag 500 Leute, und stellen auch Wasser zur Verfügung. Also die katholische Kirche macht dort Großartiges und das wird auch so in der Bevölkerung gesehen.
Die Fragen stellte Gudrun Sailer.
Weitere Informationen und Spenden, die dringen gebraucht werden, unter: www.jugendeinewelt.at
(vatican news – gs)
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