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Abbé Pierre (1912-2007) Abbé Pierre (1912-2007)  (AFP or licensors)

Frankreich: Schwere Vorwürfe gegen Abbé Pierre

Er war eine Ikone des sozialen Engagements in Frankreich und lange Zeit der bekannteste Kirchenmensch des Landes: Abbé Pierre. 2007 ist der Armenpriester gestorben. Jetzt werden schwere Vorwürfe gegen ihn laut.

Der Priester soll in den Jahren zwischen 1970 und 2005 mehreren Frauen gegenüber sexuell übergriffig geworden sein. Das teilte die „Emmaüs-Bewegung“ an diesem Mittwoch mit. Es geht um die Aussagen von sieben Frauen. Sie sprechen von Äußerungen Abbé Pierres mit sexuellem Bezug und von unerwünschtem Anfassen.

„Man kann es kaum glauben“, sagt die Ärztin und Psychotherapeutin Isabelle Chartier Siben im Gespräch mit dem katholischen Radiosender rcf. „Das ist ein Schock nicht nur für Christen, sondern für die allgemeine Bevölkerung und sogar international, denn alle haben diesen Mann bewundert für seinen Mut und seine Großzügigkeit – und jetzt das! Natürlich sagen sich einige Personen, dass das wieder mal nur eine Kampagne ist, um die Kirche durch den Schmutz zu ziehen. Aber leider glaube ich nach einer ersten Lektüre des jetzt vorgelegten Berichts, dass das keine Verleumdungen sind, sondern dass es wohl zu solchen sexuellen Aggressionen gekommen ist. Das ist also ein großer Schmerz, mit dem unser Bild von Abbé Pierre sich komplett verändert.“

Abbé Pierre mit Papst Johannes Paul II. im August 1990
Abbé Pierre mit Papst Johannes Paul II. im August 1990

„Man kann es kaum glauben“

Denn die Bewunderung für den Mann mit weißem Bart, Umhang und Baskenmütze ging weit über die christlichen Kreise hinaus. Abbé Pierre wurde nicht nur als eine religiöse Figur wahrgenommen, sondern als ein Symbol der Nächstenliebe schlechthin. Umso größer dürften die Auswirkungen der neuen Enthüllungen sein.

Die Organisationen „Emmaüs International“, „Emmaüs France“ und die „Abbé-Pierre-Stiftung“ haben in ersten Erklärungungen ihre Unterstützung für die Opfer zum Ausdruck gebracht. Man begrüße „den Mut der Personen, die ausgesagt haben und es durch ihre Worte ermöglicht haben, diese Realitäten ans Licht zu bringen“. Doch wie lässt sich eigentlich erklären, warum sich diese Frauen heute dazu entschlossen haben, zu sprechen, obwohl die Taten mittlerweile mehrere Jahrzehnte zurückliegen?

„Bei diesen Themen ist es extrem wichtig, zu sprechen“

„Das ist, würde ich sagen, ein Effekt unserer heutigen Zeit“, antwortet Isabelle Chartier Siben. „Die MeToo-Bewegungen bringen die Menschen dazu, zu sprechen. Sie tun es nicht unbedingt nur um ihrer selbst willen, sondern auch, um die Gesellschaft und speziell die Kirche voranzubringen. Bei diesen Themen ist es extrem wichtig, zu sprechen - und vor allem sobald wie möglich. Denn dann können sich Personen, die eine Tendenz zur Aggression haben, die sexuelle Impulse haben, welche vielleicht kontrollierbar sind, sich helfen lassen. Und für die Opfer ist die Tatsache, dass sie reden können, dass sie so schnell wie möglich begleitet werden, ein Garant für eine erfolgreiche Therapie und die Rückgewinnung des Selbstvertrauens.“

Bisher habe auch die Faszination, die die charismatische Gestalt von Abbé Pierre auf viele ausgeübt hat, Betroffene daran gehindert, mit ihren üblen Erinnerungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Abbé Pierre wurde in Frankreich nicht weniger als 16 Mal zur „beliebtesten Persönlichkeit“ gewählt.

Vorwürfe gegen Abbé Pierre - ein Beitrag von Radio Vatikan, mit Audio-Material von RCF

„Man kann von bestimmten Persönlichkeiten fasziniert sein, und man möchte Personen auf ein Podest stellen, weil einem das Sicherheit gibt“, betont Isabelle Chartier Siben. Doch solche Verehrung könne Missbrauch begünstigen. „Indem man eine Person auf ein Podest stellt, wird die Person selbst glauben, dass sie verpflichtet ist, auf diesem Podest zu bleiben. Sie wird also eventuell in den Tiefen ihres Wesens destabilisiert und wird manchmal Verhaltensweisen an den Tag legen, die den anderen nicht respektieren.“

Lehren ziehen

Henri Antoine Groues, so der bürgerliche Name Abbé Pierres, hatte 1949 die Emmaüs-Gemeinschaft gegründet. Sie setzt sich heute mit Hilfe zur Selbsthilfe in knapp 40 Ländern weltweit gegen Armut und Obdachlosigkeit ein. Die 1988 gegründete Abbé-Pierre-Stiftung wiederum tritt für die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die Renovierung heruntergekommener Wohnungen und Obdachlosenasyle ein.

„Man muss jetzt Lehren daraus ziehen. Es darf nicht bei dieser Enttäuschung bleiben, bei dieser Betäubung; man muss aus diesem Drama Lehren ziehen. Abbé Pierre hat unbestritten viel Gutes getan: Er war ein Widerstandskämpfer, und das, was man jetzt über ihn erfährt, wird nicht das völlig zerstören, was er auf der Ebene des Widerstands getan hat. Er hat ganze Familien gerettet! Aber es wird die Menschen lehren, dass man all diese großen Persönlichkeiten nicht mystifizieren darf. Man hat sie vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr hoch gestellt, aber sie haben letztendlich genauso Fehler wie jedes andere Individuum auch.“

„Wir fühlen auch eine große Solidarität mit diesen Frauen“

Noch am Mittwoch hat auch die französische Bischofskonferenz auf die Vorwürfe gegen Abbé Pierre reagiert. „Es ist zunächst einmal mit tiefer Traurigkeit, dass man von so etwas erfährt“, sagt uns Sophie Daugérias, eine Sprecherin der Bischofskonferenz.

„Wir fühlen auch eine große Solidarität mit diesen Frauen und bewundern, dass sie den Mut gefunden haben, nach langer Zeit das Schweigen zu brechen. So etwas ist niemals einfach – erst recht angesichts einer Person mit solcher Ausstrahlungskraft. Wir danken auch der Emmaüs-Gemeinschaft dafür, dass sie sich auf die Wahrheit eingelassen hat, das ist wichtig. Emmaüs hat uns vor ein paar Tagen darüber informiert, dass sie ungefähr ein Jahr lang auf die erste Aussage eines Opfers hin diese Untersuchung zu Abbé Pierre durchgeführt haben. Sie haben eine Agentur von außen mit dieser Untersuchung beauftragt, und die hat jetzt ihren Bericht vorgelegt.“

Hinweis: In einer ersten Fassung des Berichts wurde Abbé Pierre irrtümlich auch als „Kapuziner“ bezeichnet. Dies ist insofern nicht korrekt, als er zwar kurzzeitig den Kapuzinern angehörte, den Orden aber bereits kurz nach der Priesterweihe und noch vor der Zeit, in der sich die Übergriffe ereignet haben sollen, verlassen. Wir haben die Ungenauigkeit korrigiert.

(vatican news – sk)
 

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18. Juli 2024, 10:50