Irak: Die großen Hoffnungen in der Ninive-Ebene
Delphine Allaire - Vatikanstadt
Juni 2014: Mossul und die Ninive-Ebene im Nordirak werden von der terroristischen Gruppe Islamischer Staat (IS) erobert, die auf ihrem Weg Tod und Zerstörung hinterlässt. Ein Viertel der Bevölkerung, hauptsächlich Christen und Yeziden, flieht aus der Stadt. Die Erinnerung bleibt trotz der Befreiung drei Jahre später schmerzhaft präsent. Ein Jahrzehnt danach ist das Kapitel des Exodus für die Menschen in der Region noch nicht ganz abgeschlossen. Doch trotz der nach wie vor bestehenden Ängste findet langsam eine Rückkehrbewegung statt. Mit der Rückkehr von Ordnung und Sicherheit in den Straßen von Mossul atmen die Einwohner endlich auf. Der chaldäische Erzbischof der Stadt, die mit Franziskus im März 2021 zum ersten Mal überhaupt einen Papst empfangen hat, berichtet von einem erneuten Aufkeimen der Hoffnungen in dieser mesopotamischen Stadt, die ein historisches Symbol für Frieden und Koexistenz am Schnittpunkt der Kulturen und Religionen ist. Im Gespräch mit Radio Vatikan sagt Erzbischof Michaeel Najeeb:
„Seit der Befreiung der Ninive-Ebene aus den Klauen der Dschihadisten kehren christliche Familien nur zögerlich nach Mossul zurück, doch in der Ninive-Ebene ist die Rückkehr recht umfangreich und wichtig. Die Katastrophe hat alle Bewohner getroffen, nicht nur die Christen. Auch diejenigen, die während der Zeit von Daesch (Bezeichnung für den IS auf Arabisch, Anm.) in Mossul geblieben waren, mussten einen hohen Preis zahlen.“
„Ein echter Wandel“
Heute finde „ein echter Wandel“ statt, fügt der Kirchenmann an. Nach der Befreiung hätten die Menschen begonnen, aufzuatmen, und die Infrastruktur in der Stadt Mossul und der Ninive-Ebene sei wiederhergestellt worden, ebenso wie die Ordnung auf den Straßen, die Bauten und vor allem die Sicherheit. Weiter sagt der Erzbischof:
„Die Menschen können um Mitternacht, um zwei oder drei Uhr morgens ohne Probleme auf den Straßen unterwegs sein. Es gibt keine klare und eindeutige Kriminalität. Um Mossul herum gibt es generell kleine Probleme, die jedoch geringfügig sind. Der Mangel an Arbeit ist hingegen viel eklatanter. Da viele Menschen arbeitslos sind und kein Einkommen haben, wenden sie sich der Gewalt zu. Es gibt außerdem immer noch ideologische Nachwirkungen.“
Es gebe viele Hindernisse, aber es handelt sich vor allem um eine finanzielle Frage, räumt der Kirchenvertreter ein:
„Die Menschen haben fast alles verloren. Sie wurden aller Habseligkeiten verlustig, als sie gezwungen wurden, Mossul und die Ninive-Ebene mit fast leeren Händen und nur einem Minimum an Kleidung zu verlassen. Alles, was sie bei sich hatten, wurde geplündert. Diese Menschen müssen von vorne anfangen.“
Trotz aller Fortschritte in Bezug auf Sicherheit und Infrastruktur seien die Menschen nach wie vor verunsichert und zögerlich, gibt Erzbischof Najeeb Einblick: „Sie teilen mir ihre Unsicherheit mit: ,Herr Bischof, wir können nicht ohne Garantien nach Mossul oder in die Ninive-Ebene zurückkehren‘. Doch niemand kann ihnen Garantien geben. Nicht einmal die Kirche, die ebenfalls alles verloren hat. Die Familien können sich nicht wieder in die Gesellschaft einbringen, wenn sie keine Unterstützung erhalten, vor allem nicht von der Regierung.“
Diese habe gerade erst zaghaft damit begonnen, einige Kirchen und Häuser zu restaurieren und geringfügige Kompensationen zu leisten, doch dies sei einfach zu wenig, klagt der Erzbischof. In diesem Zusammenhang sei die Unterstützung durch Hilfswerke wie L'Œuvre d'Orient, Kirche in Not oder USAID enorm wichtig, zeigt er sich dankbar für die massive Unterstützung der Kirche und Bevölkerung durch ausländische NGOs im Nachgang der Befreiung.
„Abgesehen von den finanziellen Aspekten besteht das Hindernis auch in einem Mangel an Vertrauen in die Zukunft. Einige Menschen erinnern sich daran, dass sie sich beim ersten Mal mit ihren Kindern und ohne materielle Güter retten konnten, wer garantiert ihnen, dass sie ihre Kinder dieses Mal nicht verlieren werden?“
Doch es gebe auch Geschichten, die Mut machen, von einem Neuanfang, der gelingen kann, berichtet Erzbischof Michaeel Najeeb:
„Ein Baum kann ohne seine Wurzeln nicht gerettet werden. Die Wurzeln geben Leben. In einem unserer chaldäischen Dörfer, das für seine Weinberge berühmt ist und etwa 30 Kilometer von Mossul entfernt liegt, gab es Ende 2016, als es befreit wurde, kein Leben mehr. Alle Plantagen und Häuser waren verbrannt. Die Glut brannte noch. Ein Trümmerfeld, keine Vögel, keine Bienen, keine Flora und Fauna mehr. Alles war tot. Heute ist das Dorf erneuert, es gibt Bäume, Weinberge, Häuser und Geschäfte. Das Leben kehrt zurück.“
Dies gelte auch für den Glauben: allen Widrigkeiten zum Trotz – oder gerade deswegen – habe er eine Vertiefung des Glaubens nicht nur bei den Erwachsenen, sondern auch bei den Kindern und Teenagern feststellen können. Dazu hätten insbesondere die NGOs beigetragen, die neben dem Wiederaufbau auch das spirituelle und pastorale Leben unterstützen.
Kein Denken in ungesunden Kategorien mehr
„Das ist seit vier Jahren ein Zeichen der Hoffnung. Wir feiern auch gemeinsam die Feste der Muslime. Wir denken nicht mehr in Etiketten und Kategorien wie früher, zu Zeiten von Daesch oder Al-Qaida: ,Das ist ein Christ, das ist ein Muslim, das ist ein Yezide‘. Alle leben geschwisterlich und mit gegenseitigem Respekt. In den vier Jahren, in denen ich in Mossul lebe, hat man nie gehört, dass unsere Muslime ausfallend werden. Im Gegenteil, selbst in den Moscheen am Freitag, wenn sie predigen, werden die Worte, die uns verletzen oder erniedrigen, wie ,die Gottlosen‘, ,die Polytheisten“, ,die Leute, die das Gesetz nicht respektieren‘, ,die Christen kommen alle in die Hölle‘ nicht mehr verwendet. Diejenigen, die Christen schaden, werden gesetzlich verurteilt.“
Auch die Häuser, die von den Terroristen und ihren Unterstützern bewohnt wurden, seien von der Regierung „befreit“ worden, berichtet der Erzbischof weiter. Somit kehre auch allmählich das Vertrauen zurück. „Schließlich vereinen uns das Erbe und die Kunst. Die jungen Leute haben einen großen Anteil daran. Sie pflanzen Straßenbäume, Freiwillige säubern die Straßen. Nicht alles ist rosig. Die schädliche Ideologie von Daesh und Al-Qaida besteht in den Köpfen einiger Menschen fort, aber das lässt sich allmählich heilen.“
(vatican news - mg)
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