Beim Internationalen Friedenstreffen am 22.09.2024 Beim Internationalen Friedenstreffen am 22.09.2024  (ANSA)

Frankreich: Nahost braucht „koexistenten Frieden"

Mehr Fantasie für eine „neue Organisation Europas" hat der französische Präsident Emmanuel Macron beim internationalen Sant'Egidio-Friedenstreffen der Religionen in Paris gefordert. Motto des dreitägigen interreligiösen Gipfels ist „Imagine Peace" - vor dem Hintergrund von 56 offenen Konflikten weltweit.

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat das diesjährige Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant'Egidio eröffnet. Dabei hat er zu einer Rückkehr zu einem Recht des Zusammenlebens mit anderen aufgerufen. Friede sei nur dann möglich, „wenn beide Seiten verstehen, dass ein Weg der Koexistenz gefunden werden muss", so Macron am Sonntag.

Ein Weg der Koexistenz

Der dreitägige interreligiöse Gipfel findet zum ersten Mal in Paris statt und hat das Motto „Imagine Peace". Foren, Gebete und Ansprachen u.a. des Schriftstellers Amin Maalouf, der Erzbischöfe von Paris, Canterbury und Kinshasa sowie der Patriarchen Louis Raphael Sako und Mar Awa Royel stehen auf dem Programm, ebenso ein Redebeitrag der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.

Speziell im Nahost-Konflikt müssten beide Seiten verstehen, dass ein Weg der Koexistenz gefunden werden müsse, sagte Macron. Dazu sei eine „Wiedervermenschlichung des Feindes" sowie ein großes Maß an Fantasie notwendig, formulierte er. Die Vorstellungskraft sei ein wichtiges Mittel, um Kompromisse zu finden und neue Konzepte zur Überwindung von Konfliktsituationen zu entwickeln. Ähnlich sei auch das Projekt des europäischen Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg das Produkt fantasievoller Köpfe gewesen: „Es brauchte fantasievolle Köpfe, um diesen Frieden zu erdenken", so Macron. Auch heute sollte mit Fantasie „eine neue Organisation Europas" geschaffen werden, die über die derzeitige Europäische Union hinausgehe und eine neue Beziehung zu Russland aufbaue, schlug der französische Politiker vor.

Das prekäre Wesen des Friedens

Besonders geschützt werden müsse der Friede, da er stets „prekär" und offensichtlich weniger leicht zu rechtfertigen sei als der Krieg. Für den Krieg könne man viel leichter Gründe nennen, um ihn zu beginnen oder fortzusetzen, so Macron - wie die Ehrung von „Märtyrern" oder die Durchsetzung eines als gerecht empfundenen Anspruchs. Im Gegensatz dazu habe der Friede „eine Form von ontologischer Unsicherheit", weil er einen Verzicht impliziere, so der französische Staatspräsident. Auch für die Fähigkeit des Dialoges sei spezielle Förderung nötig: In der heutigen Welt, in der Soziale Netzwerke einen großen Raum einnehmen, herrsche eine „Tyrannei der negativen Emotionen" über die Argumentation. Allzu schnell würden diese Netzwerke zu einem „Instrument des Krieges".

Vor Resignation und vor einer weiteren Ausbreitung des Krieges warnte bei der Eröffnungsfeier Sant'Egidio-Gründer Andrea Riccardi. Gegenwärtig würden sich Kriege verewigen, indem sie eine „pervertierte Nachkommenschaft" erzeugten und den Konflikt zu einer „Sucht" machten - etwa durch die atomare Aufrüstung. Die „Kultur des Friedens" gäbe es kaum noch, mutige Vorschläge wie etwa zu einem olympischen Frieden während der Olympischen und Paralympischen Spiele blieben meist unbeachtet. Dennoch gelte es weiter an „Alternativen" zum Krieg zu arbeiten, „um der Geschichte einen Sinn zu geben", so der italienische Historiker.

Hass ist kein Schicksal

Vor Macrons Rede hatte der französische Oberrabbiner Haim Korsia appelliert, „zu bekräftigen, dass der Kampf nicht aussichtslos ist, dass Antisemitismus und jeglicher Hass kein Schicksal sind". Der Rektor der Großen Moschee von Paris, Chems-Eddine Hafiz, sagte, er werde „verfolgt von dem unmenschlichen Wahnsinn, der Gaza verwüstet". Er bete darum, „dass sich dieser Albtraum auflöst und die Region endlich den Weg zu einem gerechten und endgültigen Frieden findet". Als Kirchenvertreter meldete sich bei der Auftaktveranstaltung der Pariser katholische Erzbischof Laurent Ulrich zu Wort: „Wenn wir in der Lage sind, alle Nationen um das Ideal des Olympismus zu vereinen, Kathedralen wieder aufzubauen, muss die Vorstellung von Frieden in unserer Reichweite liegen", sagte er.

Gebete als Zeichen der Hoffnung

Derzeit gebe es 56 offene Konflikte weltweit, erinnerte der anglikanische Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, auf entsprechende Angaben der Vereinten Nationen. Der Krieg in der Ukraine - der von den westlichen Mächten zurecht unterstützt werde - und im Nahen Osten - der eine „neue Welle des Antisemitismus und der Islamophobie in Europa ausgelöst" habe - seien nur die prominentesten davon. Gläubige Menschen müssten sich auch mit Gebet für Frieden einsetzen, unterstrich der Anglikaner-Primas: „Im Gebet zeigen wir, dass es eine ewige Hoffnung und ein Licht gibt, das keine Dunkelheit überwinden kann. Es bringt in Einklang mit Gottes Willen." Weiters werde im Gebet auch jene Vorstellungskraft beflügelt, „die in der Lage ist, unserer menschlichen Neigung, in Gottes geordneter Schöpfung Chaos und Zerstörung anzurichten, entgegenzutreten".

Dankbar für Sant'Egidio

Mit der 21-jährigen Afghanin Lina Hassani war beim Auftakt des Treffens auch eine Vertreterin afghanischer Flüchtlinge anwesend. Die der Volksgruppe der Hazara zugehörige Kabulesin berichtete davon, dass ihr Vater 2009 von den Taliban getötet worden sei, sie selbst überlebte ein Selbstmordattentat an der Schule mit mehreren Toten. Nach der Machtübernahme der Taliban 2021 mit strengen Beschränkungen für Frauen sei das Leben für sie zur „Hölle" geworden. Hassani floh mit ihren Angehörigen nach Pakistan, die Familie sei aber dort als Last angesehen worden und ohne Rechte gewesen, so habe sie etwa keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung gehabt. Sant'Egidio habe die Ausreise nach Belgien im Frühjahr 2024 ermöglicht, wo die junge Frau mit ihrer Familie in einem Pfarrhof lebt. Sie danke allen, die afghanischen Flüchtlinge geholfen haben, sagte Hassani. „Ihre Unterstützung kann Leben verändern und den Weg für eine gerechtere Zukunft ebnen."

Starke Beteiligung der Jugend

Von einer freundschaftlichen Atmosphäre, mit der man Brücken über Feindschaften und Konflikte hinweg bauen wolle, berichtete am Montag gegenüber Kathpress die Leiterin von Sant'Egidio Österreich, Vera Merkel. Das Interesse vor Ort sei „enorm", viele von denen, die an den Eingängen zu den im Pariser Stadtzentrum verteilten Gesprächsforen warteten, müssten aufgrund des übergroßen Andrangs auf die Online-Übertragung vertröstet werden. Besonders ins Auge falle die enorme Beteiligung von Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren, die - teils in Schulklassen - im Publikum zu finden seien. Beeindruckend sei auch der starke gemeinsame Wille der Religionsvertreter, „nicht aufzuhören, vom Zusammenleben zu sprechen und durch konkrete Beispiele zu zeigen, dass es sich dabei nicht um eine Utopie handelt", so die in Paris als Dolmetscherin und in der Organisation tätige Friedensaktivistin. Was zähle, seien jedoch auch die vielen Bekanntschaften, die in den Pausen oder beim gemeinsamen Essen geschlossen würden.

„Menschen, die sonst nie miteinander sprechen würden, sitzen gemeinsam am Tisch“

„Menschen, die sonst nie miteinander sprechen würden, sitzen gemeinsam am Tisch. Dabei entstehen Kontakte, die oft über Jahre halten." Bei dem noch bis Dienstag dauernden Internationalen Friedenstreffen von Sant'Egidio und der Erzdiözese Paris hatten die Organisatoren im Vorfeld rund 4.000 Teilnehmerinnen und Teilnhemer erwartet.

Papstbotschaft erwartet

Einer der Vortragenden ist der Wiener Oberrabbiner Jaron Engelmayer. Auf dem Programm stehen insgesamt 21 Foren zu verschiedenen Themen wie Afrika, Migration, Demokratie oder „eine Welt ohne Atomwaffen". Der Höhe- und Schlusspunkt des Treffens findet am Dienstag auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre Dame statt. Dabei wird ein gemeinsamer Schlussappell unterzeichnet, auch eine Botschaft von Papst Franziskus soll verlesen werden. Geplant ist auch das Entzünden von Kerzen für den Frieden und eine Schweigeminute im Gedenken an die Opfer von Kriegen. (Infos: https://www.santegidio.org)

 

(kap - mo)

 

 

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23. September 2024, 14:21