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Am 7. Oktober sind die Gläubigen zu einem Tag des Gebets und des Fastens für den Frieden aufgerufen Am 7. Oktober sind die Gläubigen zu einem Tag des Gebets und des Fastens für den Frieden aufgerufen 

Kardinal Pizzaballa ein Jahr nach Kriegsausbruch: Appell für Frieden auf der Welt

Vor dem weltweiten Gebets- und Bußtag, den Papst Franziskus für Montag einberufen hat, zieht der Lateinische Patriarch von Jerusalem in einem Interview Bilanz über das Jahr des Krieges, des Leids und der Angst im Nahen Osten, das mit den tragischen Ereignissen von 2023 begann.

von Roberto Cetera

Herr Kardinal, seit diesem schrecklichen Morgen ist schon ein Jahr vergangen....

Kardinal Pizzaballa: Ja, ein schreckliches Jahr. Wir werden uns gemeinsam mit Papst Franziskus und allen Kirchen der Welt mit einem Tag des Gebets und der Buße daran erinnern. Um unsere Herzen frei zu halten von allen Formen der Angst und dem Wunsch nach Zorn. Und wir werden im Gebet unseren Wunsch nach Frieden für die ganze Menschheit vor Gott tragen.

Einen Monat nach dem Massaker vom 7. Oktober haben Sie uns ein langes Interview gegeben. Es hat unsere Leser sehr berührt, denn es war eine Art Wiedererwachen aus dem fassungslosen Schweigen, in das uns diese Tragödie gestürzt hatte - und in dem Interview haben Sie uns auch Ihre persönlichen Gefühle beschrieben. „Alles wird sich ändern“, haben Sie damals gesagt. Was hat sich eigentlich verändert? Und was hat sich für Sie und für die Christen im Heiligen Land geändert?

Kardinal Pizzaballa: Vor dem 7. Oktober 2023 waren die politischen Aussichten sicherlich ganz anders. Der israelisch-palästinensische Konflikt war zwar latent vorhanden, schien aber in eine nicht besonders beunruhigende Routine übergegangen zu sein, so dass er auf der Tagesordnung der internationalen Diplomatie keine Priorität mehr hatte. Der interreligiöse Dialog ging seinen gewohnten Gang, gestärkt durch die Reisen von Papst Franziskus und die Enzyklika Fratelli tutti. Die christliche Gemeinschaft lebte ihre pastoralen Aktivitäten mit Engagement. All das scheint nun Makulatur zu sein.

Heute ist die Palästina-Frage wieder auf dem Tisch, aber in einer dramatischen Form, was ihre Lösung noch schwieriger macht. Der interreligiöse Dialog steckt in einer tiefen Krise. Und die pastoralen Initiativen der christlichen Gemeinschaft müssen in einem neuen Kontext, der von so viel Misstrauen und Missverständnissen geprägt ist, völlig neu überdacht werden.

Ein weit verbreiteter Hass geht um, wie wir ihn noch nie gesehen haben - sowohl in der Sprache als auch in der physischen, militärischen Gewalt. All dies kann uns nicht gleichgültig lassen. Um also Ihre Frage zu beantworten: Ja, es hat sich viel verändert! Wir müssen wieder über die Zukunft sprechen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Wunden, die dieser Konflikt hinterlässt, zahlreich und schmerzhaft sind. Es war auch für mich ein sehr schwieriges Jahr. Auf der einen Seite muss man, auch wenn man vom täglichen Tumult fast erdrückt wird, sein geistiges Leben bewahren und sich darauf konzentrieren. Und dann muss man wissen, wie man seiner Gemeinschaft helfen kann, die Gründe für das Hiersein, die eigene Rolle zu verstehen. Das sind immer sehr offene Fragen, weil es keine verbrieften Antworten gibt, die über die Zeit hinweg immer gültig sind.

Ich erinnere mich, dass wir bei dem Interview im November letzten Jahres dachten, in einigen Wochen würde eine Art Waffenstillstand erreicht werden. Wir haben uns geirrt: Als wir uns sechs Monate später wieder hörten, war das Klima noch verzweifelter. Es gibt ein tragisches Paradoxon in diesem Konflikt: Je länger er andauert, desto mehr rückt sein Ende in die Ferne...

Kardinal Pizzaballa: Ich weiß nicht, ob das Ende in weite Ferne rückt, jedenfalls hat der Konflikt eine andere Wendung genommen. Er konzentriert sich nicht mehr auf den Gazastreifen, sondern wird zu einem regionalen Konflikt, den alle vermeiden wollen, den aber niemand zu stoppen vermag. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es zu einer weiteren Ausweitung des Konflikts kommen könnte, zu einem echten regionalen Nahostkrieg. Das Risiko aber besteht... Ich sehe auch noch eine andere Gefahr: das völlige Fehlen einer Exit-Strategie. Alle Kriege müssen ein politisches Ende haben, nicht ein militärisches.

Es gibt nirgendwo eine politische Vision....

Kardinal Pizzaballa: Ganz genau. Es wird nur von militärischer Strategie gesprochen, nicht von Politik. In dem Glauben, dass Frieden nur mit einem Sieg über den Gegner möglich ist. Wie wird der Gazastreifen danach aussehen? Wie wird der Libanon aussehen? Spricht jemand darüber? Ich glaube, das sind die Fragen, die man sich stellen muss. Fragen, die sich auch die internationale Gemeinschaft stellen sollte, um Lösungen zu finden. Andernfalls bleibt nur ein allgemeiner moralischer Appell zur Befriedung, der meist unbeachtet bleibt.

Sie leben schon seit fast fünfunddreißig Jahren hier....

Kardinal Pizzaballa: Ja, ich bin am 7. Oktober (sic!) 1990 hierher gekommen.

... Und in all diesen Jahren haben Sie viel gesehen. Dennoch haben Sie diesen Krieg als „den längsten und grausamsten“ bezeichnet. In diesem Krieg haben wir auf beiden Seiten entsetzliche Szenen erlebt; selbst der letzte Rest an menschlichem Mitgefühl scheint verloren gegangen zu sein. Sie kennen beide Gesellschaften gut: Was ist geschehen? Warum dieses nie dagewesene Ausmaß an Gewalt?

Die Gedenkstätte für das Massaker im Süden Israels
Die Gedenkstätte für das Massaker im Süden Israels

Kardinal Pizzaballa: Mein Eindruck ist, dass in den Seelen der beiden Gesellschaften etwas zerbrochen ist. Vielleicht war sie schon vorher angeknackst, jetzt ist sie wirklich gebrochen. Die beiden Gesellschaften sind traumatisiert. Die israelische Gesellschaft hat den 7. Oktober als eine kleine Shoah erlebt. Und für die palästinensische Gesellschaft ist der Krieg in Gaza eine neue Nakba (erzwungener palästinensischer Exodus von 1948, Anm.). In beiden Lagern werden also tiefe Wunden im Bewusstsein der beiden Völker wieder aufgerissen. Wunden, die das Leben der beiden Völker für immer gezeichnet haben und die nun als bedrohliche Gespenster wieder auftauchen. Das hat Angst ausgelöst. Und Angst kann unglaubliche Gewalt hervorrufen, denn es ist die Angst, dass die eigene Existenz gefährdet ist. Daraus ist die Gewalt, die Unmenschlichkeit entstanden, die wir in diesem Jahr erlebt haben: die Weigerung, die Existenz des anderen anzuerkennen, um die eigene zu bewahren. Wir können dies bereits an der Sprache erkennen, die voller Gewalt, Unmenschlichkeit und Misstrauen ist. Es ist immer sehr wichtig, auf die Sprache zu achten.

Auf israelischer Seite hingegen war diese Angst bis zum 7. Oktober nicht zu spüren, ja die Gesellschaft schien - auch dank einer günstigen Konjunktur - den Konflikt abgeschüttelt zu haben. Es ist kein Zufall, dass das israelische Narrativ den 7. Oktober als festen Ausgangspunkt hat, während es für die Palästinenser auch andere Daten gibt. Ich meine, dass im Westjordanland die Jahre 2022 und 2023 sehr hart waren…

Das stimmt, die israelische Gesellschaft hatte sich zwar eingeredet, der Konflikt mit den Palästinensern sei absorbiert, assimiliert worden. Aber hier kommen wir wieder auf die Rolle der Politik zurück, oder vielmehr auf die Abwesenheit von Politik. Die Politik war nicht in der Lage, die Realität zu erkennen und angemessene Lösungen für eine Situation vorzuschlagen, die unter der Asche schwelte. Und die stattdessen auf die gewalttätigste, radikalste und hasserfüllteste Weise explodiert ist - auf die sie nicht vorbereitet war.

Gaza: Ein Bild der Zerstörung
Gaza: Ein Bild der Zerstörung

Unvorbereitet, aber auch gespalten. Die Spaltungen in der israelischen Gesellschaft, die durch Netanyahus Justizreform hervorgerufen wurden, haben während des Krieges nicht aufgehört. Im Gegenteil: die Proteste haben sich zusammen mit denen gegen den Umgang mit der Geiselnahme noch verstärkt. Die Worte des ehemaligen israelischen Präsidenten Reuven Rivlin, der die Rückkehr der Stämme des biblischen Israel befürchtete, kommen einem in den Sinn. Läuft Israel Gefahr, militärisch zu gewinnen und politisch zu verlieren?

Kardinal Pizzaballa: Dass es in Israel - wie in vielen anderen Gesellschaften - Stämme gibt, war schon immer bekannt. Wenn überhaupt, dann hat sich die Art der Stämme geändert. Früher waren es Aschkenasen, Sephardim, Russen usw., heute sind es Säkulare, religiös Orthodoxe, religiöse Nationalisten und so weiter. Aber ich glaube nicht, dass die israelische Gesellschaft in den wesentlichen Fragen gespalten ist, vor allem nicht in der Frage der Bedrohung ihrer Existenz. Hinsichtlich der militärischen Option gibt es keine wesentliche Spaltung. Vielleicht gibt es eine bei den Zukunftsaussichten, bei der Idee der Staatlichkeit, aber bei den wesentlichen Fragen gibt es keine. Es ist zu früh, um zu sagen, was Israel in einigen Jahren sein wird. Sicherlich hat dieser Krieg eine tiefe Furche in das politische Leben des Landes geschlagen. Ich denke, wenn der Krieg vorbei ist, wird es tiefgreifende Veränderungen geben. Aber welche und in welche Richtung, das lässt sich heute nur schwer vorhersagen.

Betrachtet man stattdessen die Palästinenser, so scheinen die Ereignisse des letzten Jahres die historische Verurteilung der palästinensischen Gesellschaft zu bestätigen, nämlich dass sie nicht weiß, wie sie eine autoritative Führung zum Ausdruck bringen soll, die in der Lage ist, ein Projekt des Friedens und der Koexistenz mit Israel zu verfolgen

Kardinal Pizzaballa: Die Palästinenser zahlen den Preis für viele Dinge. Sie sind der Sündenbock für viele Geschichten, für eine Makropolitik im Nahen Osten, die sie immer benutzt und nie geliebt hat. Das gilt auch für die arabischen Länder. Und die westlichen Länder, die sie immer mit Worten, aber nie vollständig unterstützt haben. Und dann zahlen sie natürlich den Preis für eine politisch schwache, gespaltene und oft unzureichende Führung. Letztendlich sind sie immer allein gelassen worden. Ein Volk, das so viel Gewalt erlebt hat. Von außen und von innen.

In einem langen Interview, das der palästinensische Präsident Mahmud Abbas im vergangenen Jahr den Vatikan-Medien gab, kam etwas zum Vorschein, über das trotz seiner Einsichtigkeit nie ausreichend nachgedacht wurde, nämlich die nicht nur politischen, sondern vor allem anthropologisch-kulturellen Gründe des Konflikts: die unüberbrückbare Distanz der Bräuche und Werte zwischen den Arabern und den Juden, die hauptsächlich aus Europa stammen. Die kleine christliche Gemeinschaft, die Sie leiten, hat den Vorteil, dass sie keinen exklusiven ethnischen Bezug hat; es gibt arabischsprachige Christen, aber auch hebräischsprachige. Kann dies ein Laboratorium für einen möglichen Dialog darstellen?

Kardinal Pizzaballa: Konflikte sind fast nie nur politisch und militärisch. An der Wurzel liegen immer auch kulturelle, historische und identitätsbezogene Gründe. Dass dieser Konflikt eine anthropologische Dimension hat, steht außer Zweifel. Es gibt zwei unterschiedliche Vorstellungen von der Welt, von der Gesellschaft, vom Menschen. Ein Besuch in Ramallah und Tel Aviv genügt, um sich ein Bild von dieser Vielfalt zu machen. In manchen Dingen können sie sich sogar treffen. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass dieser Aspekt, obwohl er so wichtig ist, nie ausreichend hervorgehoben worden ist. Hier kann es niemals um Integration gehen, sondern bestenfalls um ein zivilisiertes und respektvolles Zusammenleben. Ein Zusammenleben in Wohngemeinschaften, in denen jeder er selbst bleibt, mit seiner eigenen Kultur, seinen eigenen Bräuchen, seiner eigenen Identität. Das ist schwierig, ich weiß, aber es ist möglich. Unsere kleine interethnische Gemeinschaft, die katholische Kirche, bleibt ein kleines Zeichen. Natürlich werden wir nie Schule machen, aber diese unsere Anstrengung - denn auch in uns selbst ist es schwierig, diese Einheit zu bewahren - muss das Zeichen für eine andere Art zu leben und miteinander umzugehen bleiben. Und es sollte auch eines der Mittel sein, mit denen die Kirche in diesem Land, das in allen Fragen so gespalten ist, etwas bewirken kann.

Sie können in diesem Jahr einen Rekord vorweisen, so traurig er auch ist. Sie waren der erste und sind immer noch der einzige religiöse Führer, der den Gazastreifen betreten hat. Würden Sie uns etwas über diese Erfahrung erzählen, vor allem im Hinblick auf die menschlichen Beziehungen?

Kardinal Pizzaballa: Ja, es ist mir gelungen, nach Gaza zu gehen. Und ich hoffe, dass ich zurückkehren kann. Die Aufgabe eines Pfarrers ist es, dort zu sein. An der Seite seiner Herde präsent zu sein. Ich wollte ihnen nicht nur nahe sein, sondern auch wissen, wie ich ihnen helfen kann, wie ich ihnen nützlich sein kann. Als ich in Gaza ankam - und das war gar nicht so einfach -, fand ich eine schreckliche Situation vor: eine zerstörte Stadt, in der es aufgrund der fehlenden Straßen und zerstörten Gebäude unmöglich ist, sich zurechtzufinden. Totale Verwüstung. Auf der anderen Seite fand ich eine lebendige und bewegte Gemeinschaft vor. Sie waren überrascht von meiner Ankunft - und bei mir war auch ihr Pfarrer, Padre Gabriel, der am Morgen des 7. Oktober außerhalb von Gaza festgesteckt war. Ich blieb vier Tage. Tage der Mühsal und der Hoffnung. Was mir an der Gemeinschaft am meisten auffiel, war, dass ich kein einziges Wort des Grolls, des Hasses, der Wut hören konnte. Nichts. Das hat mich sehr überrascht, denn menschlich gesehen hatten sie alle Gründe der Welt, um wütend und frustriert zu sein. Ich habe die Anwesenheit und die unglaubliche Arbeit der Schwestern sehr geschätzt. Die Worte eines kleinen Jungen, den ich damals gefirmt habe, haben mich sehr berührt. Der Angriff vom 7. Oktober war von der Hamas als „Operation Al Aqsa-Flut“ bezeichnet worden, und dieser Junge sagte mir: „Wenn das die Flut ist, dann sind wir, die christliche Gemeinde von Gaza, die Arche Noah“. Die Arche, die über den Wellen eines Meeres der Gewalt schwebt und deren Bug auf den Regenbogen des Friedens gerichtet ist.

Die Position der Kirche ist von entwaffnender Einfachheit: Man steht an der Seite derer, die leiden. Auf welcher Seite sie auch immer stehen. Und doch kämpft sie darum, verstanden zu werden. In dieser Hinsicht waren Sie in diesem Jahr häufig die Zielscheibe von Kritik beider Seiten. Möchten Sie diese Gelegenheit nutzen, um darauf zu antworten?

Kardinal Pizzaballa: Wenn man in einem so polarisierten Umfeld eine öffentliche Funktion ausübt, ist es unvermeidlich, dass man zur Zielscheibe wird. Wichtig ist, dass man bei seinen Äußerungen nicht das wiedergibt, was andere erwarten, sondern das, was man im Gewissen für richtig und wahr hält. Man muss auch mit Fehlern rechnen, die auch gemacht werden, weil sie in einem so kritischen Kontext unvermeidlich sind: zum Beispiel eine manchmal übertriebene, fehlende oder unvollständige Kommunikation. Das Wichtigste ist, ehrlich zu sein: Die Kirche muss an der Seite der Leidenden stehen. Immer. Die Kirche kann nicht neutral sein. Ich kann nicht hingehen und meinen Gemeindemitgliedern in Gaza, die dem Bombenhagel ausgesetzt sind, sagen: „Wir sind neutral“.

Aber wenn es stimmt, dass die Kirche nicht neutral sein kann, dann stimmt es auch, dass wir nicht Teil der Konfrontation sein können. Das wäre nicht nur falsch, sondern auch töricht in einem Kontext, in dem in sechsundsiebzig Jahren Krieg die Fehler des einen und des anderen nicht ausgeglichen werden, sondern sich summieren. In einem derart polarisierten Umfeld ist es nicht leicht, wahrhaftig zu sein, den Mut zu haben, ein Wort der Wahrheit zu sagen, und auch in der Lage zu sein, denen, die leiden, Nähe zu zeigen. Immer den Dialog mit allen offen halten, natürlich mit denen, die leiden, aber auch mit denen, die das Leid verursachen. Als Person und als Institution ein in jeder Hinsicht freier Bezugspunkt in diesem schmerzhaften Sumpf aus Gewalt, Hass, ausgrenzenden Erzählungen und Ablehnung zu sein und zu bleiben. Ich bin nicht dazu berufen, die Positionen der Palästinenser zu vertreten, geschweige denn die der Israelis. Ich soll im Namen der Kirche sprechen. Und die Stimme der Kirche hat das Evangelium Jesu Christi als einziges Kriterium. Von dort muss man ausgehen, und dort muss man immer ankommen.

Erlauben Sie mir eine etwas persönlichere Frage. Ich habe eine Erinnerung an unser Gespräch vor elf Monaten. Sie haben den Begriff ,Einsamkeit‘ sehr stark betont. Sie haben vor allem von der Einsamkeit der Wahrheit in einem Kontext des Hasses gesprochen, aber es war klar, dass Sie selbst unter der schweren Last der Einsamkeit in Ihrer Rolle als Leiter der Katholiken des Heiligen Landes leiden. Wie haben Sie diese elf Monate erlebt?

Kardinal Pizzaballa: Sagen wir, dass diese Rolle Einsamkeit erfordert - weil uns die Einsamkeit erlaubt, frei zu sein. Und man ist nicht wirklich frei, wenn man nicht einen gewissen - auch emotionalen - Abstand hat. Aber ich bin auch nur ein Mensch, und dass mich das belastet, ist klar.

Ich kann mir vorstellen, dass es schwer war, vor allem für jemanden, der als Ordensbruder immer in einer Gemeinschaft gelebt hat...

Kardinal Pizzaballa: Ja, natürlich. Aber die Einsamkeit muss "bewohnt" werden. Bewohnt durch das Gebet, durch die Beziehung zum Herrn, durch das Bewusstsein, das Richtige zu tun, durch ständige Unterscheidung und auch durch menschliche Beziehungen zu den richtigen Menschen.

Bevor Sie die Rolle des Pfarrers der Christen im Heiligen Land übernahmen, haben Sie eine wertvolle Rolle als Scharnier zwischen Christen und Juden gespielt, waren ein Führer der hebräischsprachigen Christen. Haben sich Ihre Beziehungen zur jüdischen Welt Israels nach dem 7. Oktober 2023 in irgendeiner Weise verändert?

Kardinal Pizzaballa: Es hat verschiedene Phasen gegeben. Am Anfang war es schwierig. Vor allem für sie. Sie haben Nähe, Solidarität, Zuneigung, Liebe gebraucht. Aber auch wir hatten das Bedürfnis, dass sie verstehen, was in den Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober passiert ist. Mit der Zeit sind dann Freundschaften entstanden, echte Freundschaften. Sicherlich befinden wir uns in einer neuen Phase des interreligiösen Dialogs. Es ist nicht mehr die Zeit der guten Absichten und der höflichen Nettigkeiten. Wir müssen unseren Dialog in der Realität verankern, die auch in ihrer ganzen Dramatik präsent ist. Wir haben viel über unsere gemeinsame und schwierige Vergangenheit diskutiert und gesprochen, und das war auch notwendig. Aber jetzt müssen wir uns, ohne die Vergangenheit zu vergessen, auf die Gegenwart konzentrieren, angefangen bei den Schwierigkeiten, denen wir heute gegenüberstehen. Angefangen bei dem Versuch zu verstehen, warum wir in diesem entscheidenden Moment unserer Beziehungen Schwierigkeiten hatten, einander zu verstehen und eine gemeinsame Sprache zu finden. Und dann vor allem, wie wir unsere Bemühungen in Richtung Frieden vereinen können. Das kann nicht länger ein akademischer oder theoretischer Diskurs sein, sondern muss in der lebendigen Realität, die uns umgibt, verankert sein.

Sie sind auch der Hirte der Christen in Jordanien. Und Sie waren in den letzten Monaten mehrmals in diesem Land. Wie haben Sie den 7. Oktober dort erlebt?

Kardinal Pizzaballa: Sehr schlecht, würde ich sagen. In den ersten Monaten gab es in Jordanien immer wieder Demonstrationen - auch harte, aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza und gegen Israel. Wir dürfen nicht vergessen, dass etwa 60 Prozent der Bevölkerung des Königreichs Jordanien Palästinenser sind und ein großer Teil der jordanischen christlichen Gemeinschaft ebenfalls palästinensischer Herkunft ist.

Die gesamte Aufmerksamkeit der Medien konzentriert sich derzeit auf die Nordfront mit dem Libanon und die Gefahren eines Krieges zwischen Israel und dem Iran. Der Situation im Westjordanland, die politisch gesehen der eigentliche Kern des Problems ist, wird viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Sie waren kürzlich in Dschenin, dem Epizentrum gewalttätiger Zusammenstöße zwischen der israelischen Armee und palästinensischen Milizionären...

Kardinal Pizzaballa: Politisch gesehen ist das Spiel komplex und spielt sich an verschiedenen Fronten ab. Das Westjordanland ist zweifelsohne eine der komplexesten. Seit dem 7. Oktober hat sich die Lage dort sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer und militärischer Hinsicht verschlechtert. Die ständigen Übergriffe der israelischen Siedler führen zu einer Situation im Niemandsland, in der es keine Regeln und keine Rechte gibt und in der derjenige gewinnt, der zuerst und am lautesten schießt.

Wenn man den Kreis von allen Fronten aus enger zieht, kommt man nach Jerusalem. Ohne Frieden in Jerusalem wird es im gesamten Nahen Osten keinen Frieden geben. Vor Jahren haben Sie mir gesagt: ,Der Krieg in Jerusalem ist ein Grundstückskrieg, man kämpft um jeden Quadratmeter'; aber in der Zwischenzeit schreitet die jüdische Infiltration in der Altstadt und im Osten ungebremst voran...

Kardinal Pizzaballa: So ist es nun einmal. Jerusalem ist der Lackmustest für den Konflikt nicht nur im Heiligen Land, sondern im Nahen Osten im Allgemeinen. Jerusalem steht im Zentrum des Geschehens, im Guten wie im Schlechten.

Die Knesset hat auch die „Zweistaatenlösung“ formell ad acta gelegt, und Netanjahu hat die Osloer Verträge als Fehler in der Geschichte Israels bezeichnet. Es gibt nur einen Ausdruck, den Netanyahu und Sinwar gemeinsam haben: Beide beanspruchen die ausschließliche Zuständigkeit „vom Fluss bis zum Meer“, wobei für den anderen kein Platz ist. Sind die „zwei Völker in zwei Staaten“ heute noch tragfähig?

Kardinal Pizzaballa: Es gibt Probleme, für die es Lösungen gibt, und Probleme, für die es keine Lösungen gibt. Realistisch betrachtet gibt es im Moment keine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt, sei es „zwei Völker in zwei Staaten“ oder „zwei Nationen in einem Staat“ oder was auch immer man sich vorstellt. Es gibt sie einfach nicht. Wir brauchen neue Gesichter und neue Perspektiven. Und das ist ein Problem nicht nur für dieses Land, sondern für den gesamten Nahen Osten, angefangen - nach den Ereignissen der letzten Stunden - mit dem Libanon. Wir müssen den gesamten Kontext und Jerusalem, das - ich wiederhole es - der Kern der Sache ist, umfassend überdenken. Der gesamte Nahe Osten braucht eine neue Führung und neue Visionen. Nur dann können wir über die günstigsten Modalitäten zur Gewährleistung des Friedens zwischen den Völkern diskutieren.

Sie waren in diesem Jahr auch viel in Europa und Amerika unterwegs. Was ist Ihr Eindruck von den christlichen Gemeinschaften im Umfeld des aktuellen Konflikts?

Kardinal Pizzaballa: Einigkeit in der Unterstützung der Christen im Heiligen Land, aber ansonsten viel Verwirrung, wenn nicht sogar Spaltung. Es ist schwer, die Gründe für den Konflikt zu verstehen. Andererseits führt auch die Politik in anderen Ländern zu einer Polarisierung. Nur die Stimme von Papst Franziskus erhebt sich, um die Krise der Menschlichkeit zu beklagen, die diese traurigen Zeiten durchzieht. Und ich sage dies ohne jeglichen parteipolitischen Stolz, aber mit viel Kummer im Herzen.

(vatican news - cs/skr)

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06. Oktober 2024, 11:54