Libanon: Ein Land am Boden
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Israels Vorgehen gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon führt zu einer existenziellen Krise eines Landes, das sowieso schon seit Jahren fast alle Kriterien eines „gescheiterten Staates“ erfüllt.
„Im Libanon gibt es heute 1.200.000 Vertriebene bei einer Gesamtbevölkerung von 6 Millionen Menschen, d.h. fast 20 Prozent der Bevölkerung des Landes sind heute vertrieben! Dabei beherbergt das Land schon seit 13 Jahren zwei Millionen syrische Flüchtlinge.“
Ein Land, in dem der Staat abwesend ist
„Wir schaffen das“ à la Angela Merkel? Von wegen.
„Das ist ein Land, in dem der Staat nicht funktioniert und abwesend ist. Es gibt seit zwei Jahren keinen Staatspräsidenten und keine voll funktionsfähige Regierung. Außerdem macht der Libanon seit fünf Jahren eine Wirtschafts- und Finanzkrise durch, einschließlich Zusammenbruch des öffentlichen Sektors und Zusammenbruch der lokalen Währung, des libanesischen Pfunds. Es gab das Einfrieren der Bankkonten der Libanesen im Jahr 2019, die Explosion des Hafens von Beirut am 4. August 2020, die katastrophalen Auswirkungen des politischen Vakuums insbesondere auf die Kinder und auf das Bildungswesen. Man spricht von 300.000 libanesischen Kindern, die die Schule abgebrochen haben – und das waren die Zahlen vor Beginn des Krieges! Von daher ist die Situation vor Ort absolut kritisch, ernst und besorgniserregend.“
Der Krieg begann nicht erst jetzt
Das Problem besteht darin, dass der Libanon schon vor Beginn des Krieges am Abgrund stand. Übrigens weist Gelot darauf hin, dass dieser Krieg nicht erst jetzt mit der israelischen Offensive und dem Tod des Hisbollah-Führers Scheich Nasrallah begonnen habe, sondern schon vor einem Jahr, am 8. Oktober 2023. Damals begann die Hisbollah vom Libanon aus mit Angriffen auf Israel, um die Hamas zu unterstützen, einen Tag nach deren Terrorangriff auf den Süden Israels. Im Libanon gab es somit schon seit einem Jahr fast 100.000 Vertriebene aus dem Süden des Landes.
„Jetzt, mit dem Krieg, haben wir neue Herausforderungen, nämlich die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen und Vertriebenen. Wir sprechen da von 1.200.000 Vertriebenen in den Schulen, in den Klöstern, in verschiedenen Zentren. Das alles ist natürlich mit Kosten verbunden. Man muss diese Menschen, die alles verloren haben, die traumatisiert sind, unterbringen, sie ernähren, versuchen, die Kinder in die Schule zu bringen. Und dann ist da auch noch die Hilfe für die Verletzten. Nehmen Sie zum Beispiel einen unserer Partner: ein Krankenhaus, das von den Maroniten getragen wird. Es behandelt vor allem Verbrennungsopfer, die Opfer der Bombenangriffe geworden sind. Man muss dazu wissen, dass in dieser Krise viele Zivilisten betroffen sind. Die 1.200.000 Vertriebenen sind hauptsächlich Zivilisten, keine Kämpfer oder Milizen. Und schließlich gibt es auch viele Menschen, die sich weigern, ihre Dörfer zu verlassen. Vor allem im Süden des Libanon gibt es Dörfer an der Grenze zu Israel, wo die christliche Bevölkerung nicht weggehen will, weil sie Angst hat, dass ihre Häuser dann von Milizionären besetzt werden könnten. Auch diesen Menschen muss man helfen, die von der Welt abgeschnitten sind, die keinen Strom und keine Lebensmittel mehr haben.“
Syrische Flüchtlinge kehren zurück in ihr Land
Gelot und sein Hilfswerk versuchen, diesen Dörfern im Süden humanitäre Hilfe zukommen zu lassen; erst am Dienstag ist so ein Hilfskonvoi gen Süden aufgebrochen, weitere sollen folgen. Ein weiteres Augenmerk von „Oeuvre d’Orient“ gilt den Familien aus Syrien, die vor Jahren wegen des Kriegs in ihrer Heimat vor Jahren ins Nachbarland Libanon geflohen waren. Sie finden sich jetzt plötzlich von neuem in einem Krieg wieder – einem Krieg, der nicht der ihre ist. Viele von ihnen kehren darum nach Syrien zurück.
„Ihre Lage ist katastrophal, denn diese Familien waren bereits Flüchtlinge und sind daher besonders gefährdet. Stellen Sie sich vor: Es gibt in den Flüchtlingslagern im Libanon Kinder, die syrischer Herkunft sind, aber Syrien nie gesehen haben und in den Lagern geboren wurden. Die jetzige Krise führt auch zu Spannungen zwischen den Libanesen und den Syrern. Es ist sehr kompliziert – und es handelt sich um zwei Millionen Menschen, das ist also fast ein Drittel der libanesischen Bevölkerung.“
Gelot spricht von 100.000 Flüchtlingen, die den Libanon hauptsächlich in Richtung Syrien verlassen haben – Syrer und auch Libanesen, die jetzt unter schwierigen Bedingungen in Syrien aufgenommen werden müssen.
„Es ist also eine absolut ernste Krise, die sich derzeit auf libanesischem Boden abspielt. Man muss sich vorstellen, dass Syrien ein Land ist, das am Boden liegt, ein Land, das von dreizehn Jahren Krieg verwüstet ist. Es ist ein Land, das unter internationalen Sanktionen steht und in dem 15% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Ein Land, in dem bereits sechs Millionen Syrer Binnenvertriebene sind und dessen öffentliche Infrastruktur und große Metropolen größtenteils zerstört sind. In diesem Kontext kommen nun die Flüchtlinge aus dem Libanon an.“
Fatalismus und Erschöpfung
Im Libanon herrscht, wie Gelot berichtet, ein gerüttelt Maß an Fatalismus. Viele sagten über den Krieg, das sei ja eigentlich nichts Neues, sondern schon seit Jahrzehnten so.
„Die Leute sind müde. Unter den Vertriebenen, die aus dem Südlibanon kommen, gibt es Menschen, die uns sagen, dass sie schon zweimal in ihrem Leben vertrieben wurden. Es ist also wirklich sehr hart, was sie erleben. Es gibt ein verbreitetes Gefühl der Erschöpfung, und das hat auch mit der wirtschaftlichen Depression zu tun, die jetzt schon seit fünf Jahren anhält. Sie ist tödlich, sie zerstört wirklich etwas in der Seele dieses Landes. Junge Leute und gut ausgebildete Personen machen, dass sie fortkommen von hier; das Bildungssystem, das Gesundheitssystem und das Sozialsystem liegen am Boden. Alle Dynamik, wie man sie noch bei den Hilfen nach der Explosion im Hafen 2020 spürte, ist dahin. Diese Prüfung ist härter.“
Das Interview mit Vincent Gelot führte Delphine Allaire von Radio Vatikan.
(vatican news)
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