Gaza: Wo ist die internationale Gemeinschaft?
Francesca Merlo und Christine Seuss - Vatikanstadt
Der 29. November wird seit fast 50 Jahren als Internationaler Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk begangen. Seit seiner Einführung durch die Vereinten Nationen im Jahr 1977 erinnert dieser Tag weltweit an die unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes sowie an die anhaltende Hoffnung auf eine friedliche Lösung der jahrzehntelangen Instabilität in der Region.
Diese Hoffnung schließt die Möglichkeit der Teilung Palästinas oder der Zwei-Staaten-Lösung ein, für die auch Papst Franziskus seine Unterstützung bekräftigt hat, zuletzt bei der Generalaudienz am 22. November. Bei dieser Gelegenheit betonte er erneut die Bedeutung und Dringlichkeit des Dialogs und der gegenseitigen Anerkennung zwischen Israelis und Palästinensern.
Gaza im Zentrum der Aufmerksamkeit
Zum Gedenktag in diesem Jahr richtet sich der Blick besonders auf den Gazastreifen, der seit über einem Jahr durch unermüdliche israelische Militäroffensiven verwüstet wird. Nach – nicht unabhängig zu verifizierenden - Angaben humanitärer Organisationen wurden bei den Angriffen mehr als 45.000 Menschen getötet, darunter mehrere Tausend Kinder. Inzwischen sind neun von zehn Menschen aus dem Gazastreifen vertrieben worden.
Eigentlich „fehlen uns die Worte, um die Situation in Gaza zu beschreiben“, sagte im Gespräch mit Vatican News Marta Lorenzo, die Europaverantwortliche des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). „Die Situation ist katastrophal. Und als ob das Szenario nicht an sich schon grausam genug wäre, verschlimmern heftige Regenfälle und niedrige Temperaturen die Situation noch weiter. Stellen Sie sich vor, was das für eine Familie mit kleinen Kindern, für Menschen mit Behinderungen oder für Krebspatienten bedeutet“, so Lorenzo. „Stellen Sie sich Menschen vor, die sich sowieso schon in einer äußerst prekären Situation befinden und nun alles verlieren, was sie noch haben. Und alles, was ihnen bleibt, ist ihre provisorische Unterkunft.“
Vergangenen Mittwoch, so hätten es ihr ihre Kollegen vor Ort berichtet, seien 7.000 Familien von den heftigen Regenfällen in Mitleidenschaft gezogen worden, und nun „kommt zu dem Risiko, durch einen Angriff getötet zu werden, noch das Risiko von Krankheiten hinzu“. Zudem gebe es im Gazastreifen „nicht genügend medizinische Hilfsgüter oder funktionierende medizinische Einrichtungen“, warnt Lorenzo, die am europäischen UNRWA-Sitz in Brüssel arbeitet:
„Wir hören auch von einer Hungersnot. Mit diesem Risiko müssen wir uns täglich beschäftigen. Meine Kollegen haben mir erzählt, dass Mütter ihre Babys nicht mehr stillen können. Wir schätzen, dass im nördlichen Gazastreifen schätzungsweise noch 65.000 bis 75.000 Menschen leben. Aktuell gibt es dort weder Gemeinschaftsküchen noch auch nur eine funktionierende Bäckerei.“
Die humanitäre Hilfe sei an ihre Grenzen gelangt und stehe unter großem Stress, während die Menschen „nicht mehr die nötige Widerstandskraft haben“, so Marta Lorenzo. „Das ist das, was wir mit ‚katastrophal‘ meinen“.
Jahrzehnte der Vertreibung im Gazastreifen und darüber hinaus
Doch die Schwierigkeiten der palästinensischen Bevölkerung gehen darüber hinaus. „84 Prozent des Gazastreifens stehen unter Evakuierungsbefehl. Wir sprechen hier über 1,9 Millionen Menschen“, präzisiert Lorenzo. „Und jedes Mal, wenn man vertrieben wird, wird man auch verletzlicher. Vertreibung geschieht nicht nur im Gaza-Streifen, sondern auch in der Westbank und im Libanon. Das führt zu Verzweiflung. Und wann wird das enden? Ich denke, das ist es, was die Menschen von uns wissen wollen. Wann wird dieser Albtraum aufhören?“
Schon das Gründungsdatum des Internationalen Tages der Solidarität mit dem palästinensischen Volk (1977) bezeugt, dass Vertreibung für die Palästinenser nichts Neues ist. Der Gedenktag geht auf 1948 zurück, auf das Jahr, das die Palästinenser als Nakba („Katastrophe“) bezeichnen. Damals wurden während des arabisch-israelischen Krieges, der nach der Gründung des Staates Israel ausbrach, mehr als 700.000 Palästinenser entweder gewaltsam vertrieben oder waren gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen.
Bis heute leben viele dieser Flüchtlinge mit ihren Familien in Lagern in der Region, sind staatenlos und können nicht zurückkehren. In den verschiedenen Konflikten seither kam es zu weiteren Vertreibungen, zum Beispiel im Sechstagekrieg 1967, in dem 300.000 Palästinenser vertrieben wurden.
Seit dem 7. Oktober 2023, als Hamas-Kämpfer in einer terroristische Attacke auf Israel 1.200 Menschen brutal abschlachteten und 240 weitere als Geiseln nahmen, hat die Vertreibung von Palästinensern weit über Gaza hinaus bis in den Libanon neue Ausmaße erreicht. Hoffnung setzt die UNRWA-Verantwortliche auf den am Mittwoch in Kraft getretenen Waffenstillstand zwischen der libanesischen Hisbollah und Israel. Ein Waffenstillstand sei „längst überfällig“, auch eingedenk der Tatsache, dass die „Abwesenheit von Frieden und Gewalt nur zu mehr Gewalt und Leid“ führe:
„Es ist aber wichtig, dass der Waffenstillstand dauerhaft bleibt, so dass die Gemeinschaften im Libanon und in Israel, die mit Angst und Unsicherheit leben mussten, in ihre Häuser zurückkehren können. Nur um ein Beispiel zu nennen, in Gaza haben wir die Schulen in Notunterkünfte verwandelt. Also die Schulen, die einst für die Bildung sorgten, sind nun Notunterkünfte geworden, in denen für hunderte von Familien gesorgt wird. Aber wir wollen, dass die Kinder zurück in die Schule können, nicht nur im Libanon, sondern auch in Gaza. Und so erwarten wir uns dasselbe Niveau an Einsatz für ein Ende des Krieges in Gaza und für eine Rückkehr der Geiseln.“
Die Nähe des Papstes zu den Menschen in Gaza
Papst Franziskus und die gesamte katholische Kirche hätten sich immer wieder für einen Waffenstillstand im Gazastreifen eingesetzt, hebt Lorenzo hervor. „Das ist extrem wichtig. Ich habe über das Leid der Menschen gesprochen und wenn ich es in Zusammenhang mit unserer Organisation bringe, die für palästinensische Flüchtlinge arbeitet, dann ist gerade jetzt unsere eigene Existenz bedroht, was bedeutet, dass die humanitäre Hilfe stoppen könnte. Wir brauchen Aufrufe wie diesen, um das Leiden der Menschen zu beenden. Wir brauchen diese Solidarität.“
Wo bleibt die internationale Gemeinschaft?
Doch auch wenn die internationale Gemeinschaft sich empfänglich für das Leid der Menschen zeige, die alles verloren hätten und dringend auf Hilfe angewiesen seien, fühlten sie sich – an konkreten Ergebnissen gemessen - nach 14 Monaten Konflikt im Stich gelassen. „Wo ist die internationale Gemeinschaft?“, sei eine immer wiederkehrende Frage, meint Lorenzo. Trotz weltweiter Proteste spiegele sich die Vernachlässigung in „den wenigen Hilfslieferungen“ wider, die in den Gazastreifen gelangen. „Für die Menschen in Gaza bedeutet internationale Solidarität also, dass man auf einen Waffenstillstand drängt, dass man darauf drängt, die israelischen Geiseln nach Hause zu bringen, und dass man darauf drängt, dass die Hilfe angemessen und dauerhaft ist, damit die Menschen ihr Leben wieder aufnehmen können.“
Vorher und nachher
Marta Lorenzo reflektiert in unserem Gespräch auch, wie sich die Dinge seit dem 7. Oktober verändert haben. Die Lage im Gazastreifen sei schon vorher schwierig gewesen, aber vor dem Krieg konnte das UNRWA seiner Mission folgen und die Kinder im Gazastreifen mit Bildung versorgen.
„Ich spreche über das Leben und die Träume von 600.000 Kindern, die unterbrochen wurden. Jetzt ist ihr Leben eine Hölle. Sie verbringen ihre Tage damit, Trümmer zu durchsuchen oder Schlange zu stehen, um Wasser oder Essen zu holen. Wenn sie Glück haben, bekommen sie eine Mahlzeit am Tag, und manchmal besteht diese Mahlzeit nur aus Brot. Das ist nicht akzeptabel. Sie müssen nach Hause zurückkehren können. Sie brauchen ein sicheres Umfeld, um zu lernen.“
Hoffnung in den dunkelsten Zeiten
Angesichts dieser schwierigen Situation schätzt Marta Lorenzo besonders die Aufrufe zu Solidarität und Gebete für den Frieden, die Papst Franziskus unermüdlich wiederholt. „Ich glaube, was der Papst meint, ist, dass wir auch in den dunkelsten Zeiten nie die Hoffnung verlieren sollten. Wir sollten niemals den Frieden aufgeben, und die Menschlichkeit muss sich durchsetzen.“
(vatican news)
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