Unser Sonntag: Fürchtet Euch nicht!
Prof. Dr. Stefan Mückl - Vatikanstadt
Mt 10, 26-33
Fürchte dich nicht! Fürchtet euch nicht! An zahlreichen Stellen spricht die Heilige Schrift mit diesen Worten Mut zu, oftmals bei jenen Gelegenheiten, in denen Gott unvermittelt in das Leben von Menschen eintritt. Denken wir nur an die großen Verkündigungsszenen der Evangelien, nämlich an Maria, an die Hirten von Betlehem, an die Frauen am leeren Grab.
Boten Gottes, Engel, eröffnen ihre Botschaft mit diesem Zuspruch, ebenso der Herr selbst gegenüber Petrus nach dem ersten wunderbaren Fischfang: Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen (Lk 5,10). Der Zuspruch ist freilich mehr als reine Beruhigung und bloße Ermutigung. Er beinhaltet einen Ruf, Gott tatsächlich in unser Leben eintreten zu lassen, Ihm Raum zu geben, großzügig zu sein. Vielen von uns klingen noch die Worte des hl. Papstes Johannes Paul II. bei seiner Inthronisation am 22. Oktober 1978 in den Ohren: „Habt keine Angst, Christus aufzunehmen und seine Herrschergewalt anzuerkennen! ... Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“
Menschenfurcht und Gottesfurcht ringen miteinander
Im heutigen Evangelium (Mt 10,26-33) wendet sich der Herr gleich dreimal mit diesem Fürchtet euch nicht! an die Apostel, ebenso aber auch an uns: Fürchtet euch nicht vor den Menschen! ... Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern eher vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann! ... Fürchtet euch also nicht! Natürlich weiß auch der Herr, daß nicht wenige Menschen Furcht und Schrecken verbreiten, andere einschüchtern und ihnen ihren Willen aufzwingen, ja sogar das Leben nehmen können. Eine solche Furcht aber darf uns nicht bestimmen und lähmen, vor allem dann nicht, wenn in ihrer Konsequenz die Abkehr von Gott steht. Der Schluß des heutigen Evangeliums ist überaus deutlich: Jeder, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen. Hier stehen sich zwei Grundhaltungen gegenüber, die seit jeher in der Seele des Menschen miteinander ringen: Menschenfurcht und Gottesfurcht.
Petrus verleugnete Jesus - aus Furcht
Menschenfurcht ist ein weitverbreiteter Schutzmechanismus des Menschen. Sie begegnet uns auch in der Heiligen Schrift, selbst unter den treuen Jüngern des Herrn, den späteren Säulen der Kirche: Petrus hat Christus dreimal verleugnet – aus Scheu und Scham vor dem anwesenden Dienstpersonal. Unter dem Kreuz befindet sich, außer dem hl. Johannes, keiner der Apostel. Auch nach der Auferstehung trafen sie sich nur heimlich und hinter verschlossenen Türen – aus Furcht, wie das Evangelium ausdrücklich vermerkt (Joh 20,19). Gewiß, es ist ein Zeichen von Klugheit und oft auch von Verantwortungsgefühl, sich in einer kritischen Situation um Deeskalation zu bemühen und, wie man so schön sagt, das Schicksal nicht noch herauszufordern. Aber fragen wir umgekehrt mit dem Psalmisten: Was können Menschen mir antun? (Ps 118,6) Im Extremfall kann das viel und großes Leid, ja sogar der Tod sein. Doch auf den entscheidenden Bereich hat kein Mensch Zugriff: auf die Seele, auf mein zutiefst persönliches Verhältnis zu Gott.
Eben das erklärt die Haltung der Märtyrer aller Zeiten, beginnend in der Zeit der Makkabäer-Aufstände mit dem greisen Schriftgelehrten Eleasar (2 Makk 6,18-31) und den sieben Brüdern (2 Makk 7). Wie später die ersten Christen angesichts des ihnen abverlangten heidnischen Opfers, schlugen sie alle Angebote eines ehrenhaften Rückzugs aus und betraten selbst die goldensten Brücken nicht, die man ihnen zu bauen versuchte. Sie alle wußten, was der hl. Paulus im Römerbrief in die Worte fassen sollte: Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? ... Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? (Röm 8,31.35)
Bekennermut im Alltag?
Natürlich sind die Situationen, die zu Haltungen der Menschenfurcht führen, je nach den Zeitumständen verschieden. Heute sind es, zumindest in unseren Breiten, keine existentiellen Gefahren für Leib und Leben mehr (wohl aber in anderen Teilen der Welt – man lese nur das bewegende Buch „Das Todesurteil“ von Joseph Fadelle). Worum es in unseren Breiten zunächst geht, läßt sich in den Begriff „Bekennermut im Alltag“ fassen. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben sich die Verhältnisse weitgehend umgekehrt: Früher war sozial isoliert, wer am Sonntag nicht in die hl. Messe ging – heute muß sich rechtfertigen, wer am Sonntag Vormittag später zu einer Einladung oder als Jugendlicher nicht zum Fußballspiel erscheint, und dies damit begründet, für ihn habe die hl. Messe Priorität. Die Liste der Beispiele ließe sich mühelos fortsetzen – das Zusammenleben vor und außerhalb der Ehe, das Tischgebet im Kreise von Freunden und Kollegen. Die vorherrschende Haltung vieler ist heute, nicht anzuecken, sich nicht zu positionieren, eine gute Figur abzugeben. Kennzeichen des Christen aber ist es, diese bella figura vor Gott zu machen, ohne Rücksicht darauf, was andere denken (so sie es denn tun) oder sagen, ohne Scheu, sich lächerlich zu machen, kurzum: ohne Scham, im wörtlichen Sinne: un-verschämt.
Ein gutes Vorbild ist, wie so oft, der hl. Paulus. Bei seinem Besuch in Athen (Apg 17,16-34) ergreift ihn heftiger Zorn, als er die Stadt voll von Götzenbildern sah. Und so sprach er auf dem Markt täglich mit denen, die er gerade antraf, bis ihn einige heidnische Philosophen zum Areopag führten und ihn baten, ihnen jene neue Lehre, die er vortrug, zu erklären. Ein wirklicher Erfolg war diese Katechese nicht gerade: Sobald die – wie es heute gelegentlich heißt – „Lebenswirklichkeit“ der Zuhörer in Frage gestellt wurde (nämlich durch die zentrale Glaubenswahrheit der Auferstehung der Toten), haben die einen dafür nur Spott übrig. Den anderen, Paulus wohlwollend Eingestellten, bleibt nur, die Veranstaltung abzubrechen und ihn rasch hinaus zu komplementieren: Darüber wollen wir dich ein andermal hören.
Glaube und Kirche waren nie zeitgemäß
Eine solche Begebenheit könnte sich ohne weiteres heute auch in unseren Breiten wiederholen. Das lehrt uns aber auch, daß Anfechtung und Widerspruch von Anfang an treue Begleiter des christlichen Glaubens gewesen sind. Gemessen an den in einer Gesellschaft vorherrschenden Haltungen und Einstellungen, waren Glaube und Kirche nie „zeitgemäß“. Doch Anfechtung und Widerspruch sind immerhin ein Zeichen dafür, daß sie ernst genommen werden – und sei es als störender Stachel.
Es ist gerade jene entgegengesetzte Haltung, die uns im Umgang mit den anderen aufrecht und mutig sein läßt: die Gottesfurcht. Denn sie ist, wie es im Buch der Sprichtwörter hießt, der Anfang der Erkenntnis (Spr 1,7). Daraus wird schon deutlich, daß die Furcht gegenüber Gott etwas grundlegend anderes als ist als die Furcht vor Menschen. Vor Gott brauchen wir keine Angst zu haben – eben darum hören wir in der Heiligen Schrift so häufig jenes Fürchte dich nicht!, mit dem wir unsere Überlegungen begonnen haben.
Was aber ist nun mit Gottesfurcht positiv gemeint? Aufschluß gibt uns ein Blick in das Buch Deuteronomium, wo es nach dem Bundesschluß Gottes mit dem Volk Israel heißt: Und nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir außer dem einen: daß du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, indem du auf allen seinen Wegen gehst, ihn liebst und dem Herrn, deinem Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dienst; daß du ihn fürchtest, indem du die Gebote des Herrn und seine Satzungen bewahrst, auf die ich dich heute verpflichte. Dann wird es dir gut gehen. (Dt 10,12-13) Untrennbar werden hier drei Haltungen miteinander verwoben: Gott zu fürchten, Ihn zu lieben und Ihm zu dienen. Gemeinsamer Bezugspunkt ist das Bewahren des von Gott Empfangenen, was sich – denken wir nur an jene skurile Begebenheit vom Anfertigen des goldenen Kalbes – so radikal abhebt von dem menschlich Gemachten. Kurz gesagt, Gottesfurcht ist eine dauerhafte Haltung in der Treue zu Gott und seinem Bund, den Er mit Seinem Volk und einem jeden einzelnen geschlossen hat.
Für jeden Christen ist dieser Bundesschluß im Sakrament der Taufe unwiderruflich geschehen. Was Gott in jenem Augenblick an einem jeden gewirkt hat, bringt das schöne Wort des Propheten Jesaja zum Ausdruck: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir (Jes 43,1). Früheren Generationen war es wesentlich, dies auch in der Namensgebung zum Ausdruck zu bringen: Ab dem 18. Jahrhundert begegnen wir vielfach dem Vornamen „Fürchtegott“ (als deutsche Ableitung des griechischen „Timotheos“). Heute ist er selten geworden, in der Rangfolge der häufigsten Vornamen steht er auf Platz 12.016.
Die gelebte Treue zu Gott ist es, die unseren Blick und unser Herz weit werden läßt, unangefochten von rein augenblickshaften Ausbrüchen und Schankungen der Gefühle. Das Schielen nach menschlicher Anerkennung und das Sich-Ausrichten an den wechselhaften Stimmungen des Zeitgeistes geben uns weder Frieden noch Freude. Dazu verhilft uns gerade jene weitere Frucht des Heiligen Geistes, die wir bedacht haben, die Gottesfurcht. Eine treffende Zusammenfassung des heutigen Evangeliums mit den unterschiedlichen Wirkungen von Menschenfurcht und Gottesfurcht finden wir bei dem großen lutherischen Theologen Dietrich Bonhoeffer:
„Wer die Menschen noch fürchtet, der fürchtet Gott nicht. Wer Gott fürchtet, der fürchtet die Menschen nicht mehr.“
(radio vatikan - claudia kaminski)
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