Trocknendes Getreide in Südkorea Trocknendes Getreide in Südkorea  

Bischof Glettler: „Fratelli tutti ist theologisch-politisches Testament"

Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler sieht in der neuen Enzyklika „Fratelli tutti” ein mit Leidenschaft vorgetragenes Konzentrat des Denkens von Papst Franziskus. Die Inhalte seien so prophetisch wie unbequem, ein „Kreisen um Verwundungen unserer Zeit”, sagte Glettler im Gespräch mit Radio Vatikan. Er hätte sich einen differenzierteren Blick auf den Islam gewünscht, so Glettler, doch an der Frage der Geschwisterlichkeit entscheide sich die Zukunft der Welt, wie der Papst zu Recht festhalte.

Gudrun Sailer – Vatikanstadt

Wie erklären Sie sich, dass über dieses Papstschreiben drei Wochen nach seinem Erscheinen nur noch Spezialisten reden?

Bischof Glettler: Das ist schwer zu sagen, vielleicht ist es ein zu intensiver Herzschlag, der einem da entgegenkommt! Die prophetische Intensität des Schreibens ist gewaltig, sich auf sowas einzulassen kostet etwas. Es ist vielleicht auch eine Spur lang, was einige abschreckt, sich damit zu befassen. Ich glaube aber vor allem, dass der Papst einige wunde Punkte anspricht und immer wieder anspricht - es ist ein Kreisen um Verwundungen unserer Zeit. Sich dem zu stellen und das auszuhalten und zu sagen, wir müssen wirklich unsere Lebensstile verändern, unsere Art und Weise des globalen Zusammenlebens verändern, das ist eine große Herausforderung. Vielleicht möchte man das einfach verdrängen.

„Ob wir als Söhne und Töchter dieses einen Vaters auf dieser Welt lernen, miteinander umzugehen oder nicht: Daran entscheidet sich die Zukunft“

Was sehen Sie als große Stärke des Schreibens?

Bischof Glettler: Ich glaube es ist eine Art Testament, das Papst Franziskus uns hier vorlegt, wo er viele Aussagen zusammenfasst, die er schon getätigt hat und einen Begriff findet mit dieser globalen Geschwisterlichkeit oder sozialen Freundschaft und sagt: Da entscheidet sich das Wesentliche. Nämlich ob wir als Söhne und Töchter dieses einen Vaters auf dieser Welt lernen, miteinander umzugehen oder nicht: Daran entscheidet sich die Zukunft. Ob wir fähig sind, als Geschwister, denn durch den Mensch gewordenen Gott sind wir Geschwister, in Geschwisterlichkeit zu leben, in einer verbindlichen Freundschaft. Es ist sein theologisch-politisches Testament. Und deswegen die große Herausforderung: Soll man sich dem stellen?

Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler, hier im Gespräch mit Theologiestudierenden
Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler, hier im Gespräch mit Theologiestudierenden

Sehen Sie auch Punkte an dem Schreiben, die nicht weit genug gehen oder die zu weit gehen?

Bischof Glettler: Es kommen alle wesentlichen Themen in diesem Schreiben vor, möglicherwies nicht in der Differenziertheit wie in Laudato si. Oder wenn ich an das Thema Islam denke: Da gibt es in Evangelii Gaudium differenzierte Aussagen. Das Beglückende von Fratelli tutti ist, dass der Papst ganz selbstverständlich einen Imam mehrfach zitiert, man merkt, sie sind befreundet. Vielleicht vergisst er aber auch darauf hinzuweisen, dass diese Religion derzeit die am stärksten missbrauchte ist und dass es auch einen Schatten gibt, der gerade vielen Menschen in islamistisch dominierten Ländern Schwierigkeiten bereitet oder sogar eine Glaubensverfolgung einbringt. Da hätte man sich eine Differenzierung gewünscht. Aber ich finde Fratelli tutti interessant, weil es eine Zusammenschau ist mit einer großen Leidenschaftlichkeit. Und wenn ich ein Plädoyer ablegen kann: Es braucht jetzt Konferenzen und Symposien, um sich diesem Text zu stellen. Man darf ihn nicht abtun und sagen, der Papst hat ja keine Ahnung von Wirtschaft. Er sagt, eine spezifische Art des globalen Wirtschaftens raubt so vielen Menschen die Lebensgrundlage und bringt so viele Menschen in den Ruin - da ist tatsächlich etwas zu tun.

Hier zum Hören:

Die Corona-Krise bringt vieles ans Licht, was vorher schon angelegt war. Eines diese Phänomene ist in der internationalen Politik die Re-Nationalisierung, vor der Papst Franziskus eindringlich warnt. Sehen Sie da vernünftige Gegenkräfte, oder ist diese Re-Nationalisierung, bei der jedes Land nur an sich selber denkt, eine ernsthafte Bedrohung für die Zukunft?

Bischof Glettler: Zum Glück gibt es in den meisten Ländern auch in Europa aufgeschlossene Menschen und viele Gläubige, die sagen, wir bleiben mit unserer Solidarität und dem Zeugnis unseres Glaubens nicht im Binnenfeld unseres nationalen Lebens, sondern gehen darüber hinaus. Wir sind ein Dorf, zusammengewachsen auf dieser Welt, und das braucht ein grenzüberschreitendes Interesse, ein großzügigeres Teilen von dem, was wir an Lebensmöglichkeiten haben.

Konkret?

Bischof Glettler: Konkret: Europa darf nicht an seinen Grenzen stehenbleiben, sondern muss in Afrika investieren. Das dürfen wir - wenn wir es rein wirtschaftlich sehen - nicht den Chinesen überlasssen. Ein großzügiges Ermöglichen, dass auf diesem großen Kontinent Afrika Menschen nicht flüchten müssen, dass die Wirtschaft sich wieder gut aufbauen kann, dass Bildungsmöglichkeiten da sind.

„Ja, es gibt weltweit das Erstarken des Nationalismus, das ist offensichtlich. Aber die katholische Kirche lebt als Global Player und global Prayer genau ein Gegenkonzept“

Ja, es gibt weltweit das Erstarken des Nationalismus, das ist offensichtlich. Aber die katholische Kirche lebt als Global Player und global Prayer genau ein Gegenkonzept. Sie sagt: wir gehören doch weltweit zusammen. Wir lassen uns nicht zurückdrängen auf nationale Grenzen. Das ist begründet in unserem Glauben: dass in jedem Menschen, wo auch immer er lebt, welcher Kultur er angehört, welche Hautfarbe er hat, Christus persönlich da ist. Das ist das Verbindende, Starke. Es gibt große Bewegungen wie S. Egidio und andere Movimenti, die das auch sehr intensiv leben. Es gibt eine Entwicklungszusammenarbeit in der Kirche mit unterschiedlichsten Playern. Die ganz großen sind bekannt, es ist missio, das päpstliche Misisonswerk, auch so ein globales Netzwerk. Das ist ein Atem des Katholischen, den wir jetzt brauchen, dass wir weltweit Geschwister sind und aus diese Geschwisterlichkeit niemanden ausschließen sollten. Da gibt es einiges zu tun.

Hermann Glettler ist seit 2017 Bischof von Innsbruck. Er hat soeben ein neues Buch vorgelegt: „Trost – Wege aus der Verlorenheit”, das wir in Kürze vorstellen.

(vatican news)

 

 

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27. Oktober 2020, 09:39