Welttag der Armen: „Vorliebe für die arm Gemachten ist in Kirchen-DNA“
Gudrun Sailer – Vatikanstadt
Radio Vatikan: Wenn Sie an Armut heute, 2020, denken, was kommt Ihnen als erstes in den Sinn?
Pirmin Spiegel: Durch die Coronapandemie kommen die Armutsherde in der Welt noch stärker in den Blick. Als erstes in den Sinn kommt mir die Zunahme von Gewalt in der Familie gegen Frauen und Mädchen. Als zweites: die leidende Demokratie. Weltweit sehen wir hier enorme Schwierigkeiten, die Möglichkeit, als Zivilgesellschaft präsent zu sein, wird immer mehr eingeschränkt. Und als drittes: Armut hat konkrete Gesichter, die dort sichtbar werden, wo Menschen ausgegrenzt werden, missbraucht, gefoltert, wo Krieg stattfindet, Menschen ihre Freiheit und Würde entzogen bekommen. Wo fehlende Bildungsmöglichkeiten und fehlende Gesundheitsmöglichkeiten sind – durch die Pandemie.
Radio Vatikan: Nun leben wir in unseren Ländern in Europa in relativem Wohlstand, der aber aufgrund der Coronapandemie in den Augen vieler bedroht erscheint. Schärft so etwas den Blick katholischer Gläubiger für die Armut in der Welt und für die Solidarität, oder ist es eine Zeit, in der Menschen wieder eher auf sich selbst schauen, auf den kleinen Kreis?
Pirmin Spiegel: Der Wunsch ist, dass sowohl die Solidarität gestärkt wird und gleichzeitig Menschen nach ihrer eigenen Würde und ihrer eigenen Lebensperspektive und dem Lebenssinn fragen. Menschen weltweit erkranken an Covid oder leiden an den Folgen. Millionen verloren in den letzten Monaten ihre Arbeit - ich denke an Tagelöhner und Arbeiterinnen im informellen Sektor. Der Hunger wächst. Die FAO schätzt, dass 130 Millionen Menschen mehr an Hunger leiden werden Die Nahrungsmittelpreise steigen. Gesundheitssysteme sind überfordert, Vorsorge bricht ganz zusammen. Alle diese Herausforderungen klagen nach Solidarität und fragen nach authentischem Glauben. All diese Punkte bedeuten, dass wir uns unterbrechen lassen müssen von der Not und dem Schmerz der anderen.
Radio Vatikan: „Streck dem Armen deine Hand entgegen": So lautet das Leitwort des Welttages der Armen in diesem Jahr. Was sagt Ihnen das?
Pirmin Spiegel: Das ist ein wunderbares Wort - einmal um sich zu öffnen, den anderen in den eigenen Blickpunkt zu nehmen und zu vertrauen, dass der andere und die andere Potentiale haben, die meinem eigenen Leben dienen können. Insofern: Sich selbst zu sehen und Solidarität mit anderen zu üben, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Und noch ein anderes Bild: Es wird ja immer gesagt, wir sind im gleichen Boot. Ja und nein! Wie ein Freund von mir sagte: Wir sind auf stürmischer See, einige sind auf einem Kreuzfahrerschiff, andere in einem Paddelboot. Die Boote, die Rahmenbedingungen, sind sehr unterschiedlich, um diesem Sturm zu begegnen.
Radio Vatikan: Es war Papst Franziskus, der den Welttag der Armen in den kirchlichen Kalender eingefügt hat – in diesem Jahr wird der Welttag der Armen zum 4. Mal begangen. Hat er sich inzwischen schon richtig als katholischer Brauch gefestigt?
Pirmin Spiegel: Der Welttag der Armen wurde von Franziskus zum Ende des Jahres der Barmherzigkeit ins Leben gerufen. Barmherzigkeit ist ein Prinzip des Evangeliums, der Motor, das pulsierende Herz des Evangeliums. Insofern gehören die Barmherzigkeit und die besondere Vorliebe Jesu für die arm Gemachten zur DNA der Kirche. Das ist theoretisch allen bekannt. Dass aber am 33. Sonntag im Jahreskreis die Perspektive dessen eingenommen wird, der unter die Räuber gefallen ist, dessen, der am Rand steht, derer, die Gewalt erleiden, erfahre ich eher als selten. Papst Franziskus hat bei der Einführung dieses Tages gesagt, er möchte so wie seine Vorgänger einen eigenen Tag einrichten, damit er das Gesamtbild vervollständigt und damit es eine Tradition in den Gemeinden wird. Wir von den Hilfswerken tun alles, damit dieser Tag immer mehr Aufmerksamkeit gewinnt. So denke ich, dass sich das Multiplizieren langsam durchsetzen wird, weil wir in unserer Welt spüren, dass eine weltweite Solidarität notwendig ist. Und da ist der Welttag der Armen ein enormes Zeichen, um die Perspektive zu wechseln und aus dem Blickwinkel der Armen zu sehen.
Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor, im Interview mit Radio Vatikan.
(vatican news – gs)
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