Corona-Pandemie: „Diesen Brennglas-Effekt sollten wir nutzen“
Anne Preckel - Vatikanstadt
Als Leiterin des Referats „Arbeitsleben“ bei der „Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“ (Eurofound) hat Gerstenberger ein Auge auf die Qualität von Arbeit und Arbeitsbeziehungen in verschiedenen europäischen Ländern. Am Donnerstag trug die Deutsche bei einer vom Vatikan ausgerichteten Tagung vor, bei der es um die Nutzung neuer Technologien im Sinne von Gemeinwohl und Entwicklung ging. Corona habe uns Missstände im Bereich der Arbeit vor Augen geführt, sagt sie im Interview mit Radio Vatikan.
„In vieler Hinsicht hat die Pandemie keine grundsätzlich neuen Probleme aufgeworfen, sondern die, mit denen wir seit langen Jahren zu kämpfen haben, nur sehr viel sichtbarer werden lassen - prekäre Arbeit, Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, unangemessene Entlohnung in den Pflegeberufen etc. Und dieser Brennglas-Effekt, den sollten wir nutzen und die lang überfälligen Schritte endlich einleiten.“
Brennglas-Effekt
Die Corona-Pandemie habe bestimmte Tätigkeiten stärker ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, die „häufig schlecht bezahlt und gesellschaftlich nicht gebührend anerkannt seien", so Gerstenberger - ob die Arbeit im Krankenhaus oder in der Pflege, im Supermarkt oder als LKW-Fahrer, essentielle Arbeiten, die die Gesellschaft in der Krise am Laufen hielten. Auch Papst Franziskus hatte während der Corona-Pandemie immer wieder auf solche „Helden der Pandemie" verwiesen. Gerstenberger:
„Dass die Arbeitsbedingungen, inklusive die Entlohnung, in diesen Berufen unbedingt verbessert werden müssen, ist eine ganz wichtige Aufgabe für die Politik, aber auch für die Sozialpartner (Gewerkschaften und Arbeitnehmer, Anm. d. Red.). Das soziale Netz enger zu knüpfen, damit eine Absicherung nicht mehr an Beschäftigungsstatus oder die Qualität des Arbeitsvertrages geknüpft ist, auch das ist eine weitere wichtige Aufgabe. Und auch das hat uns die Pandemie gezeigt, dass eben in vielen Berufen, wo Aufgaben auf Selbständigen-Basis ausgeführt werden, diese Absicherung zu ganz besonders prekären Situationen während der Pandemie geführt hat, und das hat wie unter der Lupe gezeigt, wo die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und bei den Arbeitsbedingungen in unserer Gesellschaft liegen."
Arbeit würdig und gerecht zu gestalten, stärkt die Gesellschaft auch langfristig. Wenn es bei systemrelevanter Arbeit hakt, ist es mit Krisenfestigkeit nicht weit. Das habe die Politik schon auch begriffen, zeigt Gerstenberger sich zuversichtlich. Sie bewertet es etwa als positiv, dass die Europäische Kommission beim Corona-Krisenmanagement neben akuten Aufbau- und Nothilfen auch auf die längerfristige Stärkung der Gesellschaft setzen wolle.
Ausrichtung auf die Zukunft
„Die Europäische Kommission hat ja mit ihren Unterstützungsfonds Wert gelegt auf den Aufbau nach der Krise, aber auch auf die Verbesserung der Belastbarkeit unserer Gesellschaft, unserer Resilienz, also eine bessere Vorbereitung auf die Zukunftsherausforderungen, und das ist denke ich ganz wichtig, sich darauf zu konzentrieren.“
Diesen Blick nach vorn lobt Gerstenberger an der vatikanischen Covid-19-Komission, die die Vatikan-Tagung vom Donnerstag ausrichtete. Der Papst ließ den interdisziplinären „Thinktank“ bereits in der ersten Pandemie-Phase einrichten, um Wege zu erarbeiten, wie Pandemie-Folgen vor allem für die Schwächsten abgefedert werden könnten und wie sich die Zeit nach der Krise gemeinsam gestalten ließe.
„Ein sehr interessanter Ansatz der Covid 19-Kommission des Vatikans ist meiner Meinung ihre Ausrichtung auf die Zukunft. Und hier einen interdisziplinären Ansatz zu wählen ist meiner Meinung nach sehr sinnvoll, weil wir es mit sehr unterschiedlichen Problemen zu tun haben, wir haben es mit wirtschaftlichen Problemen, mit sozialen, immer mehr mit ökologischen Problemen zu tun. Und deshalb ist ein interdisziplinärer Ansatz mit einer Ausrichtung auf die Zukunft wesentlich. Nicht allein: Was ist in der Vergangenheit passiert, wie haben wir die Pandemie bewältigt? - Das müssen wir uns natürlich auch angucken, aber immer mit einem Fokus auf: Was können wir in der Zukunft besser machen?“
Medikamente statt Pizza
Im Interview mit Radio Vatikan nennt Gerstenberger konkrete Beispiele, wie sich die Corona-Pandemie ausgewirkt hat, zum Beispiel bei der Plattformarbeit - also für Lieferdienst-Angestellte, die im Auftrag web-basierter Plattformen Waren oder Essen ausliefern. Solche Dienste werden in der Pandemie-Zeit mehr in Anspruch genommen, was Arbeitsformen verstärkt, die wenig Sicherheiten bieten.
„Das sind prekäre Arbeitsverhältnisse insofern, als dass die Beschäftigten als Selbstständige arbeiten, von daher keine soziale Absicherung haben. Was auch während der Pandemie bedeutet hat, dass sie – wenn sie ihren Arbeitsplatz dann doch verloren haben – in keinster Weise Zugang zu Unterstützung und sozialen Dienstleistungen hatten. Das ist eine Situation, die unbedingt angegangen werden muss.“
Positiv sei allerdings, dass einige dieser Dienste während der Pandemie „sehr schnell umgestellt haben auf die neuen Anforderungen“ und etwa statt Pizza Medikamente auslieferten, so Gerstenberger. Außerdem sei die Plattformarbeit für viele junge Leute und auch für Menschen mit Migrationshintergrund immer auch ein Einstieg, eine Art „Sprungbrett“ in das Berufsleben, so die Expertin weiter – es dürfe eben nur nicht dabei bleiben, sondern brauche dann den Übergang in festere Arbeitsverhältnisse. Um Arbeitsbedingungen in diesem Bereich zu verbessern, seien nicht nur Politik und Gesetzgebung gefragt, auch Gewerkschaften und Arbeitnehmer könnten hier Einiges verbessern, gibt Gerstenberger zu bedenken.
Mehrbelastung von Frauen in der Pandemie
Mit Blick auf verschärfte Ungleichheiten in der Pandemie-Zeit nennt Gerstenberger weiter die unterschiedliche Belastung von Männern und Frauen. Von Schließungen und Arbeitsplatzverlust seien vor allem Frauen-dominierte Branchen wie Tourismus, Hotels und Gaststätten betroffen gewesen. Außerdem entstanden für die Frauen durch den Wegfall von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Ältere und Behinderte zusätzliche physische und psychische Belastungen. Mehrarbeit, Müdigkeit und Homeoffice als Drahtseilakt.
„Frauen mit kleinen Kindern zwischen 0 bis elf Jahren haben pro Woche im Schnitt über 50 Stunden für die Betreuung von Kindern verwendet im Vergleich zu Männern, die nur knapp 30 Stunden damit beschäftigt waren. Und das sind Zahlen für Frauen und Männer, die gleichzeitig auch einer bezahlten Arbeit nachgehen.“
Dieses Thema hat Gerstenberger auch in ihrem Vortrag bei der Vatikan-Konferenz am Donnerstag angesprochen; Thema der Tagung war „Promoting Integral Human Development and Peace in the Digital Age – New Technologies in the Post-Covid World“.
(vatican news – pr)
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