D: Münchner Gutachten über Missbrauch durch Kleriker und Angestellte
Mario Galgano – Vatikanstadt
Das Gutachten wurde im Haus der Deutschen Wirtschaft in München vorgestellt. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx war bei der Pressekonferenz nicht anwesend. Es waren aber Vertreter der Erzdiözese im Saal dabei. Auch Vertreter des Betroffenenrats im Erzbistum München waren zugegen. Auf dem Podium sprachen drei Vertreter der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das Gutachten erstellt haben.
Umstände des Gutachtens
Zunächst ging Anwältin Marion Westphal auf die Umstände des Gutachtens ein. Die Gutachter hätten die Fakten gesammelt, die Diskussion darüber sei dann Aufgabe der Kirche, fügte sie an. Bereits 2010 habe sich die Kanzlei mit dem Umgang mit Missbrauch im Erzbistum beschäftigt. Das sei eine Basis für das heutige Gutachten. In einem Fall müsse eine Einschätzung korrigiert werden - nämlich in Hinsicht auf Kardinal Joseph Ratzinger, später Benedikt XVI. Genauer ging die Anwältin nicht darauf ein. Maßgeblich dafür sei besonders auch die zunehmende Bereitschaft von Betroffenen gewesen, sich zu offenbaren. Diese Erkenntnisquellen hätten 2010 noch nicht zur Verfügung gestanden.
Emeritierter Papst Benedikt XVI. weist Vorwürfe zurück
Beim emeritierten Papst Benedikt XVI. sei zu sagen, dass er Stellung zum Gutachten genommen habe. Er war von 1977 bis 1982 Erzbischof in München. In 4 Fällen sei ihm Fehlverhalten vorzuwerfen. 2 Fälle betreffen in seiner Amtszeit verübte und strafrechtlich verurteilte Fälle, heißt es in dem Gutachten. In beiden Fällen seien die Täter im Amt geblieben. Kirchenrechtliche Maßnahmen habe es nicht gegeben. In einem Fall wurde ein Priester aus einer anderen Diözese übernommen. Als Münchner Erzbischof habe Kardinal Ratzinger davon Kenntnis gehabt, sagt Gutachter Martin Pusch. In allen Fällen habe der emeritierte Papst ein Fehlverhalten zurückgewiesen. In der Tat hatte der emeritierte Papst in seinen Antworten auf die Fragen, die zur Vorbereitung des Gutachtens übermittelt wurden, jegliche Kenntnis der Situation abgestritten. Gutachter Pusch sagte dazu: „Er behauptet Unkenntnis davon gehabt zu haben, auch wenn sie mit der Aktenlage schwer in Einklang zu bringen ist, zumal Gespräche mit Kardinal Ratzinger etwas anderes belegen.“
Der „Fall X“
Der dritte Gutachter, Ulrich Wastl (WSW), stellte den sogenannten „Fall X“ vor, der besonders recherchiert wurde, weil man merkte, dass an der Aktenlage „etwas nicht stimmte“. Daher sei die Kanzlei selber tätig geworden und habe versucht, Zugänge zu Zeitzeugen und weiteren Opfern zu erhalten. Das sei gelungen, so Wastl. Damit soll gezeigt werden, wie echte Ermittlung und Aufklärung funktionieren würden. Bei diesem von WSW als „Fall X“ bezeichneten Fall dürfte es sich um den Fall H. eines aus dem Bistum Essen übernommenen Priesters gehen, auch wenn Wastl es nur als „in den Medien bereits erwähnten Fall“ bezeichnete.
Lange hieß es, bei diesem Priester habe es Vorkommnisse in seinem Heimatbistum gegeben und eine gerichtliche Verurteilung zu 18 Monaten auf Bewährung gegeben. Auch in der dritten Einsatzstelle im Erzbistum München habe es weitere Täter und Opfer gegeben. Der damalige Generalvikar Gerhard Gruber habe seine Aussagen von 2010 vor diesem Hintergrund inzwischen relativiert.
Es sei überwiegend wahrscheinlich, dass Kardinal Ratzinger/Benedikt XVI. um diesen Fall gewusst habe. „Zu unserer Überraschung bestritt er, bei er entsprechenden Sitzung dabei gewesen zu sein, in der die Übernahme des Priesters X. beschlossen worden sei“, so Wastl. „Das war auch deshalb überraschend, weil er in dem Protokoll zu dieser Sitzung nicht als abwesend notiert ist. Und nur Abwesende wurden damals notiert. Zudem wird er im Protokoll namentlich erwähnt“, fügt der Gutachter an. Versäumnisse werden auch Kardinal Friedrich Wetter, Generalvikar Gruber und Offizial Wolf in diesem Fall X vorgeworfen. Nur die Akten allein würden jedoch nicht eine vollständige Klärung bringen, so Wastl.
Fehlverhalten von Kardinal Marx
Dem heutigen Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx sei in 2 Fällen ein fehlerhaftes Verhalten vorgeworfen worden. Das betreffe insbesondere Meldungen an die Glaubenskongregation. „Das mag erstaunlich sein, darf aber nicht als Freibrief verstanden werden“, so Anwalt Pusch. Kardinal Marx sei von vielen Zeitzeugen eine grundsätzliche Offenheit für das Problem sexuellen Missbrauch attestiert worden.
Allgemeine Untersuchung
Man habe die festgestellten Mängel der vergangenen Jahrzehnte sowie Beschuldigte und Empfehlungen behandelt, so Pusch. Schwerpunkmäßig fanden die Befragungen mit Verantwortungsträgern und Betroffenen vor einem Jahr statt. 71 Personen seien angefragt worden, 56 seien dieser Anfrage gefolgt. Die früheren und heutigen Verantwortungsträger wurden dann Ende August 2021 mit den Feststellungen konfrontiert. Sie hätten ebenfalls wie die Gutachter seitens der Erzdiözese Zugang zu den Akten gehabt. Auf der Basis der so gewordenen Erkenntnisse seien die Untersuchungsberichte erstellt worden, erläuterte Anwalt Pusch.
65 tatsächliche und mutmaßliche Missbrauchstäter dargestellt
Es seien 65 „tatsächliche oder mutmaßliche“ Missbrauchstäter dargestellt worden. Die Anwältin Westphal hatte zuvor hervorgehoben, dass Vergebung in der katholischen Kirche eine große Bedeutung habe. Das müsse, sagte Westphal, die Messlatte für das Verhalten der Kirche und besonders ihrer führenden Repräsentanten sein. Dann werde Vertuschung als das benannt, was sie sei: Verrat an Grundbekenntnissen des Glaubens. Nur dann könne es womöglich zur Rückgewinnung von moralischer Autorität kommen, so ihre Analyse.
Bei den Missbrauchstätern und Opfern habe man auf eine Identifizierbarkeit vermieden, so Pusch weiter. Auch auf Ortsangaben sei verzichtet worden, ebenso auf genaue Zeitangaben und eine Darstellung des Tatgeschehens. Die Stellungnahmen der Verantwortungsträger wurden nicht nur berücksichtigt oder wiedergegeben, sondern in einem separaten Anlagenband abgedruckt. Das Dunkelfeld sei wohl „erheblich größer“, so die Gutachter.
261 Personen
Konkret kommen insgesamt 261 Personen als mögliche Täter oder Mittäter in dem Gutachten vor, darunter 173 Priester. 54 Personen waren bei der ersten Tat 36-45-jährig, 39 Personen seien 46-54-jährig gewesen. Die Hälfte der Täter gehörte zur mittleren Altersgruppe. Die Gutachter gehen von 497 Geschädigten aus. Insgesamt 247 Opfer seien männlich, 280 seien weiblich. In 68 Fällen sei eine verlässliche Zuordnung nicht möglich gewesen.
Opfer mehrheitlich Knaben
Man gehe davon aus, dass die Mehrheit der Opfer überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen sein sollen. 60 Prozent der männlichen Betroffenen seien 8-14jährig gewesen, bei den weiblichen Geschädigten sei dies ein Drittel der Geschädigten gewesen. Schwerpunkte der Missbrauchsfällen liege in der Zeit von Mitte der 1960er bis 1970er Jahre. Auffallend sei ein signifikanter Anstieg der Tatvorwürfe ab 2015. Missbrauch in der katholischen Kirche sei kein Phänomen der Vergangenheit, fügte Pusch an. Die Betroffenen wurden bis 2002 nicht immer wahrgenommen, und wenn dann deshalb, weil man sie als Bedrohung für die Kirche ansah, erläuterte Pusch den Grund für die unterschiedliche Zahlen im Laufe der Jahre.
Entschädigungszahlen und Prävention als positive Entwicklung
Positiv hervorzuheben seien die Anstrengungen im Bereich der Entschädigungszahlen und der Prävention, wurde bei der Pressekonferenz betont. Einen Paradigmenwechsel zur Betroffenen-Perspektive sei jedoch bisher nicht geschehen, so eine weitere Kritik. Ein aktives Zugehen der Verantwortlichen in der Sorge um Geschädigte sei für die Zeit der Aufarbeitung nicht festzustellen. Defizitär sei zudem der Umgang mit betroffenen Pfarrgemeinden, in denen Missbrauchstäter tätig waren, besonders nach einer Entpflichtung eines Priesters.
Empfehlungen der Gutachter
Gutachter Martin Pusch empfahl die Einrichtung einer Ombudsstelle für die Geschädigten mit entsprechendem Mandat. Zudem müssten die betroffenen Pfarreien stärker in den Blick genommen werden.
(vatican news)
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