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Edith Stein Edith Stein 

D: „Edith Stein hat unserer Zeit etwas zu sagen“

Sie war Jüdin, Atheistin, Philosophin, Frauenrechtlerin, Christin, Karmelitin und ist Schutzpatronin Europas: Edith Stein wurde vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet. Was uns diese außergewöhnliche Heilige Teresa Benedicta a Cruce heute noch zu sagen hat, erklärt im Interview mit dem Domradio Schwester Ancilla Wißling.

DOMRADIO.DE: Am 9. August 1942 kamen Edith Stein und ihre Schwester Rosa in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ums Leben. 45 Jahre später wurde sie von Papst Johannes Paul II. in Köln seliggesprochen; am 11. Oktober 1998 erfolgte in Rom die Heiligsprechung. Als Priorin des Kölner Karmels und Vertreterin der Schwestern, in deren Konvent Edith Stein 1933 eingetreten ist, waren Sie damals auf dem Petersplatz mit dabei. Welche Erinnerung haben Sie an diesen Tag?

Schwester Ancilla Wißling (Karmelitin im Kölner Kloster „Maria vom Frieden“): Ich sollte damals die Lesung aus dem Buch Esther vortragen und hatte vom Ambo aus einen großartigen Blick über den gesamten Platz und die dahinter liegende Via della Conciliazione bis in die Nebenstraßen hinein. Alles war voller Menschen, die dicht gedrängt aneinander standen. Eine unvorstellbare Menge. Aus der ganzen Welt waren sie gekommen. Und da war mir klar, dass Edith Stein noch heute lebendig ist. Daran hat sich seitdem nichts geändert. Im Gegenteil: Ich bin tief davon überzeugt, Edith ist ein Geschenk für unsere Zeit, eine Mut machende Frau auf der Suche nach, Sinn, Leben, Erfüllung und letztlich nach Gott. Unglaublich, dass sie heute auf allen Erdteilen bekannt ist und ihre Schriften in viele Sprachen übersetzt werden. Aber sie ist eben jedem Schwester und Freundin, gerade weil sie sämtliche Phasen des Menschseins durchlebt hat. Schließlich wurde sie nicht als Heilige geboren, sondern hat – wie viele Menschen – ihren Platz im Leben erst einmal gesucht, dann aber für ihre Ziele gekämpft. Einen Satz aus der Predigt von Papst Johannes Paul II. habe ich nie mehr vergessen. Er hat damals gesagt, dass in Edith Stein deutlich wird, wie Glaube und Wissenschaft zusammenwirken. Das trifft in der Tat den Kern. Denn sie verkörpert beides.

Hier das Interview mit Schwester Ancilla Wißling

„Denn es war wie eine Verheißung: dass aus der größten Bedrängnis und Todesnot, aus dem niederträchtigsten und grausamsten Verbrechen, aus der dunklen Welt dieses Nazi-Regimes etwas von dem österlichen Geheimnis aufbricht.“

Ich war damals mit meinen Mitschwestern, zu denen übrigens auch Schwester Margarita Drügemöller gehörte, eine ehemalige Mitnovizin von Edith Stein im Kölner Karmel, zum ersten Mal in Rom und weiß noch ganz genau, dass der Petersdom eingerüstet war und inmitten dieses hässlichen Gerüsts von Stangen und Fassadenarbeiten das Bild von Edith hing. Irgendwie sah das schrecklich aus und erschien auf den ersten Blick völlig unangemessen. Aber die Enge dieser Eisenverstrebungen, in die hinein ihr Porträt gezwungen worden war, erinnerte mich plötzlich an Auschwitz, den Ort ihrer Hinrichtung. Und da habe ich verstanden: Man hatte den allerliebsten Platz für Edith gefunden. Denn es war wie eine Verheißung: dass aus der größten Bedrängnis und Todesnot, aus dem niederträchtigsten und grausamsten Verbrechen, aus der dunklen Welt dieses Nazi-Regimes etwas von dem österlichen Geheimnis aufbricht. Mitunter fügt sich das Leben uns entgegen. Und diese Fügung, Edith Stein als Hoffnungsbild, in dem die Auferstehung aufscheint, zu sehen, hat mich tief beglückt. Es war, als leuchte ihr Licht in der Finsternis.

DOMRADIO.DE: Edith Stein ist eine Märtyrerin und Heilige der jüngeren Geschichte, die lange auf der Suche nach dem wahren Glauben war, wie sie selbst einmal gesagt hat. Später lebte sie in einem Spannungsfeld von Kontemplation und aktivem Handeln. Heute ist sie neben Katharina von Siena und Birgitta von Schweden Patronin von Europa. Welche Bedeutung hat sie für Sie persönlich und welche für den Kölner Karmel?

Sr. Ancilla: Für mich ist sie eine Schwester auf dem Weg des Gebetes, eine Mystikerin. Zur Seligsprechung von Edith Stein war eine Plakette herausgegeben worden, auf der dieser Satz stand: „Der Mensch ist gerufen, in seinem Innersten zu leben. Nur von da ist die Auseinandersetzung mit der Welt möglich.“ Karl Rahner formulierte es einmal ähnlich: "Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.“ Und Thomas Halik sagt: „Die Leute, für die Gott eine Gewohnheit ist, sind verschlossen für das Ereignis des Göttlichen.“ Das ist ja gerade das Moderne an Edith, dass sie die Existenzfrage durchlebt und durchlitten hat in allen ihren Facetten – nicht zuletzt als liebende Frau, die eigentlich auf eine Ehe gehofft hatte. Sie ist ein Mensch, der sich auf der Suche von innen her geöffnet und aus der Tiefe die Beziehung in den Mittelpunkt gestellt hat. Das ermutigt auch mich, diesen Weg der Offenheit und Weite zu gehen.

„Nichts ist geschaffen ohne den Logos.“

Und was für mich gilt, gilt auch für den Karmel: Edith ist eine Ermutigung zur Gottverbundenheit mitten in unserer Millionenstadt Köln. Sie ist ein schweigend-beredter Hinweis auf die verborgene Gegenwart Gottes mitten in unserer Welt. Nichts ist geschaffen ohne den Logos. Unser Kloster verweist auf diesen Gott, für den es keinen Namen gibt, der aber allen Menschen die Zusage schenkt „Ich bin da, wo du bist“.

DOMRADIO.DE: Was glauben Sie – welche Bedeutung kommt Edith Stein momentan in Europa zu?

Sr. Ancilla: Gerade in diesen Zeiten des Unfriedens und der Verwirrung ist sie mitten unter uns. Sie ermutigt dazu, sich für den Frieden einzusetzen. Denn Christus ist unser Friede. Daran glauben wir. Chaos, Kairos und Kosmos – alles hängt miteinander zusammen. Noch einmal: Dieses Bild von Edith Stein damals im Gerüst der Fassade von St. Peter war ein Zeichen dafür, dass aus jedem Chaos ein neuer Kosmos, eine neue Ordnung, entstehen kann – aus der Tiefe heraus, die Christus ist. Als Schutzpatronin trägt Edith Stein zum Frieden unter den Religionen bei. Ich bin gewiss: Auch jetzt gerade in diesen kriegerischen Auseinandersetzungen, die viele Menschen ihr Leben kosten, ist sie mit uns auf der Suche nach Frieden…

DOMRADIO.DE: Die Schülerin und Studentin Edith Stein galt als klug und hochbegabt. Am Ende ihrer akademischen Laufbahn aber bleibt ihr die Habilitation bei Edmund Husserl verwehrt. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die Professur einer Frau – undenkbar. Noch ist die Gesellschaft nicht reif für einen solchen Schritt. Doch das hindert Edith Stein nicht, sich weiterhin hochintellektuell mit philosophischen Fragen auseinanderzusetzen und sich später als Lehrerin auf dem Gebiet der Mädchen- und Frauenbildung zu engagieren. Ist Edith Stein als Frauenrechtlerin noch heute ein Vorbild?

Sr. Ancilla: Sie war eine der ersten Frauen, die studiert haben, und wollte eine akademische Laufbahn einschlagen. Später hat sie sich für das Wahlrecht der Frauen und in ihren Vorträgen für Gleichberechtigung eingesetzt. Dafür hat sie gekämpft, aber mit einem friedvollen Herzen, das warten kann in Geduld und im Vertrauen auf Gottes Wirken im Jetzt. Sie hat sich eigentlich bei allem, was sie getan hat, immer mutig den Fragen ihrer Zeit gestellt, sich zum Beispiel auch gegen Rassismus positioniert. Sie war eine Frau, die immer Stellung bezogen hat – mit ihrer ganzen Kraft und im Bemühen, Gegensätze auszuhalten. Die Theologie sagt, nur in Gott geschieht der Zusammenfall der Gegensätze, die Coincidentia oppositorum. Sie war eine Frauenrechtlerin, die um die Gegensätze damals wusste, aber sie gelten lassen konnte. Das ist für mich „Shalom“. Edith trug den Namen Benedicta vom Kreuz. Das Kreuz – Zeichen des Widerspruchs, Ort unsagbaren Leidens, der Hingabe Jesu bis zum „Mehr geht nicht“. Es ist der Ort der alles entgrenzenden, alles entengenden unbegreiflichen Liebe. Dazu passt ganz gut ein Hymnus, den Edith Stein selbst geschrieben hat: Frei – gelöst – in deinem Strömen – Heiliger Geist – ewige Liebe. Mit ihrer ganzen Persönlichkeit ist sie in eine tiefe Freiheit hineingewachsen. Und mit dieser großen Freiheit ist sie auch ins KZ gegangen. Von innen her hat sie eine enorme Stärke bezeugt. Ja, sie ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild.

DOMRADIO.DE: Als junge Frau glaubt Edith Stein zunächst nicht an die Existenz Gottes, vielmehr erwartet sie von der Wissenschaft Antworten auf die Fragen ihres ethischen Idealismus. Erst in der Auseinandersetzung mit den autobiografischen Schriften der Mystikerin Teresa von Avila 1921 entdeckt sie schließlich, dass sie auch noch an anderer Stelle – als ausgerechnet an der Universität – in der Welt wirken kann. In der Folge konvertiert sie zum katholischen Glauben und lässt sich schon ein Jahr später taufen. Was ist ihr wichtigstes Testament? Was können wir heute von dieser Frau lernen?

Sr. Ancilla: Dass sich jeder selbst annimmt und über diesen Weg der Selbstannahme immer noch mehr in eine geistliche Tiefe wächst, wo er dem lebendigen Gott sich öffnend begegnen kann. Edith Stein hat ja zunächst Psychologie in Breslau studiert, aber das war ihr zu wenig, zu oberflächlich. Schließlich wollte sie nicht aufhören, dem Geheimnis unseres Menschseins nachzuspüren. Daher dann auch die Beschäftigung mit der Phänomenologie bei Edmund Husserl. Ihr Weg war der einer Suche nach dem Geheimnis des Lebens und damit nach Gott, der uns sucht, längst bevor wir beginnen, ihn zu suchen. Auch darin ist sie uns Vorbild. Und wir können von Edith lernen, einen Weg ins Weite, in die Freiheit, ins Offene zu gehen. Sie war der Prototyp einer modernen Frau, die unserer Zeit etwas zu sagen hat. Für sie gilt der Satz: Wir werden am Ende des Lebens nur nach der Liebe gefragt.

DOMRADIO.DE: Die Welt steht gerade in Flammen. Der von Russland verantwortete Angriffskrieg auf die Ukraine weckt Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, dessen Grausamkeit und Brutalität Edith Stein, die als Brückenbauerin zwischen Christen und Juden galt, zum Opfer fiel. Welche Aufgabe haben Heilige wie sie für unser gesellschaftliches Zusammenleben und für unsere Kirche?

Sr. Ancilla: Sie sind Mut machende Weggefährten des Menschen auf dem Pilgerweg des Lebens. Sie sind mit uns und in Gott da, weil sie gegenwärtig – lebendig – sind. Der Himmel ist so weit ja nicht weg; er ist hier. Auch unsere Verstorbenen sind mitliebende Gefährten und nicht weg, nur weil sie nicht mehr unter uns leben. Heilige sind Menschen wie wir, mit unseren Erfahrungen, unserem Versagen, der Schuld und dem Gebrechen; mit allem, was das Leben auch an Dunklem hat. Heilige sind da hindurch gegangen – durch dieses Dunkel ans Licht. Hinter dem Horizont ist daher nicht das Ende.

„Denn das Leben dieser Heiligen steht für bahnbrechende Gedanken zur politischen Gleichberechtigung, zu einer spezifischen Pädagogik für Mädchen, zu der weiblichen Eigenart in Leib, Seele und Geist sowie zu neuen weiblichen Lebensentwürfen bis hin zur Auslegung der biblischen Gleichwertigkeit der Geschlechter und den christlichen Lebensmodellen.“

Heilige wie Edith Stein müssten vielmehr noch in unser Bewusstsein rücken, weil sie uns dazu ermutigen, nicht aufzuhören, uns für den Dialog, ein liebendes Miteinander und bereit zur Vergebung zu öffnen – auch und gerade in diesen aufwühlenden und kriegerischen Zeiten – und auf das Leben, letztlich aber ja auf Gott zu vertrauen, der in allem Leid und Chaos immer da ist. Gott war auch in Auschwitz schon vor uns da. Wir haben die Zusage für das Jetzt und dass in Gott alles eins ist, auch wenn es unser Begreifen übersteigt. Bei jedem Gedenken an Edith geht es um das "Heutigwerden" dieser Frau mit ihrem großen Charisma, deren Ideen noch 80 Jahre nach ihrem Tod in unsere Gesellschaft hineinwirken. Denn das Leben dieser Heiligen steht für bahnbrechende Gedanken zur politischen Gleichberechtigung, zu einer spezifischen Pädagogik für Mädchen, zu der weiblichen Eigenart in Leib, Seele und Geist sowie zu neuen weiblichen Lebensentwürfen bis hin zur Auslegung der biblischen Gleichwertigkeit der Geschlechter und den christlichen Lebensmodellen. Edith Stein ist als Mensch mit uns Menschen unterwegs. Auch heute noch.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

(domradio – mg)

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09. August 2022, 11:18