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Österreich: Erschütterung über Gewalt in Heimen

Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler und die Tiroler Soziallandesrätin Eva Pawlata haben am Mittwoch mit Erschütterung auf den Bericht über Missbrauch in konfessionellen Kinderheimen in Tirol nach 1945 reagiert.

In dem Bericht, der im Auftrag der unabhängigen „Dreierkommission Martinsbühel“ erstellt wurde, wurden mehrere kirchliche Kinderheime untersucht, mit 75 Personen wurden Interviews geführt. In dem Bericht ist von struktureller, psychischer, physischer und sexueller Gewalt die Rede. „Die teils erschütternden Berichte zeigen pädagogisches Totalversagen - das gilt für kirchliche und staatliche Einrichtungen“, so Bischof Glettler wörtlich.

Die Umstände, die dazu geführt hatten, würden teilweise im Forschungsbericht dargelegt. Wichtig sei es, „dem geschehenen Unrecht die nötige Aufmerksamkeit zu geben“. Sein Mitgefühl gelte allen, „die in den Heimen traumatisiert wurden“, so der Bischof.

Bitte um Verzeihung

Er betonte zudem, dass die Kirche aufgrund zahlreicher erschütternder Berichte von betroffenen Personen in den vergangenen Jahren bereits reagiert habe. Im Jahr 2010 wurde eine unabhängige Opferschutzkommission eingerichtet. Zahlreiche Personen, von denen einige im Bericht ihre dramatischen Erfahrungen schildern, wurden von dieser Kommission angehört und hätten Unterstützungszahlungen erhalten. Ebenso wichtig sei die sofortige Einrichtung von Ombudsstellen in allen Diözesen gewesen sowie die Erarbeitung von Präventionskonzepten, "die ständig aktualisiert werden", so der Bischof.

Soziallandesrätin Pawlata hob hervor, dass auch das Land Tirol zu seiner Verantwortung stehe. „Ich bitte alle Betroffenen um Verzeihung für das, was damals in den Heimen passiert ist. Wir müssen alles dafür tun, dass solche Geschehnisse nie wieder vorkommen. Dazu müssen wir das Thema Gewalt, auch strukturelle Gewalt, noch deutlicher ins Bewusstsein holen und dafür sensibilisieren - und das Tag für Tag“, so die Landesrätin.

Martinsbühel und weitere Heime

Die „Dreierkommission Martinsbühel“ wurde 2019 vom Land Tirol, der Diözese Innsbruck sowie den Vertretern der Ordensgemeinschaften eingesetzt. Ihr Ziel ist es, dass unabhängige Experten die Vorkommnisse rund um das Kinderheim Martinsbühel aufarbeiten - vor allem bezogen auf die strukturellen Hintergründe. Im Zuge der Aufarbeitung wurde allerdings festgestellt, dass Bedarf für eine Untersuchung weiterer Einrichtungen besteht. Aus diesem Grund wurde das Forschungsprojekt auf weitere kirchliche Heime in Tirol nach 1945 ausgeweitet.

Die wissenschaftliche Leitung bzw. Aufarbeitung lag beim Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und dem Wissenschaftsbüro Innsbruck. Nach zweijähriger Forschungstätigkeit liegt nun der Abschlussbericht „Demut lernen. Kindheit in konfessionellen Kinderheimen in Tirol nach 1945“ vor.

75 Personen wurden interviewt

Nach einem öffentlichen Aufruf konnten in den vergangenen zwei Jahren 75 Personen interviewt werden. Sie lebten als Kinder bzw. Jugendliche in diesen Einrichtungen oder haben sich als Zeitzeugen gemeldet, weil sie dort gearbeitet hatten oder in anderer Weise Auskunft geben konnten und wollten. Darüber hinaus kam es im Herbst 2020 zu einem Lokalaugenschein in Martinsbühel, im Zuge dessen Vertreter der Dreierkommission, der wissenschaftlichen Leitung sowie der Kirche von einer in Martinsbühel als Kind bzw. Jugendliche jahrelang untergebrachten Frau durch die Räume und das Gelände geführt wurden. Nicht zuletzt wurde von der Wissenschaft auch das noch vorhandene Archivmaterial erhoben.

Der Fokus der Forschung lag auf den Lebens- und Arbeitsrealitäten in den untersuchten Einrichtungen. Der Bericht zeige auf, „dass die Strukturen in den Heimen verschränkt mit den strukturellen Bedingungen von außen - dem Land, der Kirche -, aber auch der Interaktion von Ordensschwestern und deren Übergeordneten Auswirkungen auf die Heimkinder hatten“, so die Kommissionsvorsitzende Margret Aull.

„Angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre“

Die Schilderungen in den durchgeführten Interviews würden zeigen, dass die Ordensangehörigen von den schutzbefohlenen Kindern stets Gehorsam, Demut, Fleiß und Frömmigkeit verlangt hatten. Weder die fehlende erzieherische Ausbildung der damaligen Ordensfrauen, noch die Gruppengröße - in Martinsbühel musste etwa eine Schwester in den 1970er-Jahren bis zu 50 Mädchen betreuen - war für die Kinder und deren Bedürfnisse förderlich. „Die Schilderungen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner machten uns deutlich, dass eine angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre vorherrschte“, so Aull.

Neben der strukturellen Gewalt wurde von den Befragten auch von psychischer sowie physischer Gewalt berichtet. Auch über sexualisierte Gewalt wurde erzählt. „Da sexualisierte Gewalt verschiedene Formen betrifft und sich auf weit mehr Formen als eine Vergewaltigung bezieht, verstanden manche ehemalige Heimkinder erst im Nachhinein, dass sie sexualisierte Übergriffe erfahren hatten“, erläuterte die Kommissionsvorsitzende.

Grundsätzliche strukturelle Mängel

Die grundsätzlichen strukturellen Mängel seien damals vielfältig gewesen. Betroffene berichteten, dass die damalige Jugendfürsorge des Landes und auch die jeweiligen Schulbehörden nicht oder zumindest zu wenig genau hinschauten. „Einige Befragte gaben an, dass sie erst im Rahmen des verstärkten Auftretens von Opferschutzkommissionen zu professioneller Unterstützung kamen - und damit erst Jahrzehnte nach den gemachten Erfahrungen. Mit dem vom Land Tirol und der Diözese Innsbruck beauftragten Forschungsprojekt haben wir nun jenen eine Stimme gegeben, die zu lange nicht gesehen und gehört wurden“, so Aull.

Netz an Präventionsmaßnahmen notwendig

Gegenüber Kathpress ergänzte Bischof Glettler am Mittwoch wörtlich: „Der Bericht schärft unser Bewusstsein für Schmerz und Leid der Vergangenheit. Zugleich ist er ein Aufruf an alle Verantwortlichen, entschlossen zusammenzuarbeiten, um Licht in die traurigen Ereignisse zu bringen, sich demütig auf einen Weg der Versöhnung und Heilung zu begeben und die Betroffenen zu unterstützen.“ Der Bericht sei zudem „ein Aufruf für alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, genau hinzusehen, sie auf einem guten Weg ins Leben zu begleiten“.

Missbrauch und Gewalterfahrungen zerstörten oft ein ganzes Leben. Es müsse künftig ein breites Netz an Präventionsmaßnahmen geben – „in allen Einrichtungen, in den kirchlichen und staatlichen, in den Heimen, Schulen und Vereinen“. Das Wohl von Kindern und Jugendlichen sei immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung, betonte der Bischof.

Ein Zirkel von Gewalterfahrungen

Die in den Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen hätten meist Gewalterfahrungen aus ihren Familien, Schulen und aus den dörflichen Strukturen mitgebracht. Ohne entsprechende psychologische Begleitung, geschweige denn Therapie hätten sie in den unzureichenden Heimstrukturen wiederholte Re-Traumatisierungen erlebt - ein Zirkel von Gewalterfahrungen.

Der Bischof wies zugleich aber auch darauf hin, dass im Bericht auch viele Beispiele von Menschen erwähnt werden, die in den katholischen Heimen aufgefangen und den Umständen entsprechend gut versorgt wurden. „Es gibt berührende Erzählungen von ehemaligen Bewohnern, die den Schwestern ein Leben lang dankbar sind. Wer sonst hätte Kinder und Jugendliche in prekären Notsituationen aufgenommen?“

Abschlussbericht öffentlich zugänglich

Kommissionsmitglied und Projektleiter Dirk Rupnow vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck betonte: „Man muss sich der Lektüre des Berichtes unterziehen und wird merken, dass die Inhalte etwas mit einem machen. Wir müssen die Gesamtgesellschaft damit konfrontieren. Die Opfer von damals wollen ernst genommen werden und nochmals zu Wort kommen - genau das können dieser Bericht und eine aktive Aufarbeitung der Inhalte bewirken.“

Der Abschlussbericht in seiner gesamten Länge ist im Internet abrufbar.

(kap – sk)
 

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07. Dezember 2022, 14:23