Nach einem russischen Raketenangriff auf ein Gebäude in der Nähe von Charkiw, Juli 2022 Nach einem russischen Raketenangriff auf ein Gebäude in der Nähe von Charkiw, Juli 2022 

D: Friedensethik in Zeiten des Ukraine-Kriegs

„Pax Christi“: So heißt die internationale katholische Friedensbewegung. Ihre Deutsche Sektion feiert jetzt 75. Geburtstag – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem wieder Krieg in Europa herrscht…

Wir sprachen mit der Generalsekretärin des Verbands, Christine Hoffmann. 

Christine Hoffmann
Christine Hoffmann

Interview

„Das Signal war damals: Wir bleiben nicht Feinde“

Wie blicken Sie denn auf 75 Jahre Pax Christi in Deutschland zurück? Was waren die Höhepunkte, und was waren schwierige Momente?


„Mich packt im Moment oft die Dankbarkeit und die Ehrfurcht, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich lese im Moment viel aus den unterschiedlichsten Jahrzehnten – und gerade die Anfänge direkt nach dem Zweiten Weltkrieg sind einfach beeindruckend, weil sie so eng verknüpft sind mit der deutschen Geschichte. Da sind französische Katholiken auf deutsche Katholiken zugegangen, haben die Hand ausgestreckt und gesagt: Wir müssen wieder was zusammen machen. Und 1948 haben sie sich dann in Kevelaer zu einem internationalen Friedenskongress getroffen. Das Signal war damals: Wir bleiben nicht Feinde, sondern wir gehen wieder zusammen! Das ist etwas, das mich wirklich mit Dankbarkeit erfüllt, was die damals gemacht haben.

Und dann ging das spannend weiter. In den ersten Jahren wurde in der Pax Christi-Bewegung in den internationalen Raum geschaut; man setzte sich mit dem Hunger in der Welt auseinander, und daraus entstand die Initiative, die nachher in die Gründung des bischöflichen Hilfswerks Misereor mündete.

Der hl. Maximilian Kolbe ging im KZ Auschwitz für einen Familienvater in den Hungerbunker
Der hl. Maximilian Kolbe ging im KZ Auschwitz für einen Familienvater in den Hungerbunker

„Teilweise Mitarbeit am deutsch polnischen Versöhnungsprozess“

Später, 1964, fuhr eine erste Delegation nach Auschwitz und traf dort auch polnische Bischöfe. Das hat im Grunde das in Bewegung gesetzt, was wir nachher aus dem Versöhnungszeichen aus Polen gegenüber Deutschland kennen: Ich meine den starken Brief der Polnischen Bischofskonferenz mit den Worten ‚Wir vergeben und bitten um Vergebung‘. Außerdem trafen Pax Christi-Gruppen in Polen Menschen, die Überlebende von KZs waren, und erfuhren: Die haben überhaupt kein Geld, sind überhaupt nicht wirtschaftlich ausgestattet. Das Ergebnis war eine jahrelange Kollekte, die schließlich acht Jahre später in der Gründung des Maximilian Kolbe Werks ihre Institutionalisierung fand. Also, dieser zweite große Schritt war wirklich die teilweise Mitarbeit am deutsch polnischen Versöhnungsprozess.

Viel später – und das ist das, was sehr viel mehr mit Pax Christi in Deutschland verbinde – kamen dann die 80er Jahre mit den Demonstrationen gegen Atomwaffen, gegen den NATO-Doppelbeschluss und damit einhergehend eine Politisierung der Bewegung in diese Richtung… Ja, das sind wirklich spannende Aspekte, auf die man da zurückschauen kann!“

Am Ort des Massakers von Srebrenica in Bosnien
Am Ort des Massakers von Srebrenica in Bosnien

„Unsere Friedensethik setzt sich nicht zum ersten Mal mit Krieg in Europa auseinander“

Eine stolze Geschichte – aber in Europa herrscht jetzt wieder Krieg. Muss da jetzt auch die katholische Friedensethik sozusagen generalüberholt werden?

„Nein, das glaube ich gar nicht! Ich spreche jetzt nur mal für die katholische Friedensethik in Deutschland – die setzt sich ja nicht zum ersten Mal mit einem Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Es sind harte Kontroversen um (das Massaker von) Srebrenica und den (Krieg im) Kosovo geführt worden; die katholische Friedensethik hat da eigentlich schon immer darum gerungen, welche Möglichkeiten es gibt, um gewaltmindernd zu handeln, und wo die Grenzen liegen. Die katholische Friedensethik hat auch immer gesagt: Es gibt Grenzen, wo dann doch Militär akzeptiert wird. Pax Christi setzt sich damit sehr, sehr intensiv auseinander, weil wir davon überzeugt sind, dass Prävention und Diplomatie, Ausgleichfinden und Vertrauenbilden immer besser ist, als dass es zu einem Krieg kommt.

Also, die Friedensethik hat eigentlich die Kontroverse schon lange geführt, und ich sehe das nicht, dass da etwas neu geschrieben werden muss. Ich glaube, dass es auf die Perspektive hin weiterentwickelt werden muss: Wie können wir es in Zukunft vermeiden? Und dass viel stärker geschaut werden muss, wie Frieden gebaut werden kann, um wirklich kontinuierlich zu bleiben. Aber Umschreiben? Das sehe ich nicht.“

Raketenwerfer bei einer Parade in Moskau im Mai letzten Jahres
Raketenwerfer bei einer Parade in Moskau im Mai letzten Jahres
75 Jahre Pax Christi dt. Sektion - ein Radio-Vatikan-Interview mit Christine Hoffmann

„Ich glaube nicht wirklich, dass das Gleichgewicht des Schreckens den Frieden gesichert hat“

Sie haben eben die großen Demonstrationen in den 80er Jahren gegen die Nachrüstung erwähnt. Stichwort Atomwaffen: Der Papst erklärt schon den Besitz von Atomwaffen für moralisch verwerflich. Dabei stützte sich darauf während des ganzen Kalten Krieges das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens – und doch letztlich auch erfolgreich. Wie stehen Sie denn dazu?

„Ich sehe das anders – Pax Christi sieht das anders. Ich glaube auch nicht wirklich, dass das Gleichgewicht des Schreckens den Frieden gesichert hat. Am Krieg gegen die Ukraine durch Russland jetzt und der großen Angst davor, dass von russischer Seite Atomwaffen eingesetzt werden, sieht man doch, welche große Gefahr und welche Bedrohung von diesen Waffen ausgeht!

„Was gescheitert ist, ist dieses nukleare Abschreckungssystem“

Vor Jahrzehnten ist Abrüstung im Nichtverbreitungsvertrag vertraglich vereinbart, aber nie wirklich eingelöst worden. Papst Franziskus hat ja dann den Vatikan diesen Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen lassen – und er hat ihn nicht nur unterzeichnet. Er hat sich wirklich ganz früh dafür eingesetzt, dass dieser Vertrag zustande kommt, weil aus humanitärer Sicht ein Atomwaffeneinsatz nicht zu bewältigen ist. Keine Ärztinnen, keine Ärzte, keine Krankenschwestern, keine Rettungssanitäter – niemand kann diese Situation wirklich bewältigen! Das ist der Grund, warum er da mit dem Roten Kreuz gemeinsam sehr stark initiativ war, dass dieser Vertrag zustande kommt, der schon allein den Besitz von Atomwaffen als unmoralisch verbietet.

Und wir in Deutschland unterstützen da ganz stark die Position von Papst Franziskus und setzen uns auch dafür ein, dass Deutschland den Atomwaffenverbotsvertrag unterschreibt. Denn ich glaube, dass dieses Abschreckungssystem das ist, was gescheitert ist. Das bringt weiter in Gefahr – und da sind wir auf der Seite des Papstes.“

Johannes XXIII. unterzeichnet 1963 seine Friedens-Enzyklika
Johannes XXIII. unterzeichnet 1963 seine Friedens-Enzyklika

„Ein neues ‚Pacem in terris‘ müsste Gewaltfreiheit in den Mittelpunkt stellen“

Mitten im Kalten Krieg und dem Gleichgewicht des Schreckens schrieb Johannes XXIII. vor genau 60 Jahren, 1963, seine große Friedens-Enzyklika „Pacem in terris“. Wenn heute wieder mal so ein katholischer Grundlagentext über Krieg und Frieden zu schreiben wäre, was müsste da aus Ihrer Sicht drinstehen? Und was wäre heute anders als damals?

„Das ist eine spannende Frage! Wenn jetzt so etwas geschrieben würde, dann müssten im Grunde die gesamten Impulse, die Papst Franziskus gesetzt hat, aufgegriffen und in einen Text gegossen werden. Er hat zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2017 einen Text geschrieben über Gewaltfreiheit als „Stil einer Politik für den Frieden“. Darin hat er alle Regierungen aufgerufen, sich an gewaltfreier Politik zu orientieren und das zu ihrem Politikstil für den Frieden zu machen. Außerdem rief er uns Gemeinden und Gläubige auf, dazu beizutragen, dass man lernt, was Gewaltfreiheit heißt.

Eigentlich bewältigen wir unseren Alltag zu 99 Prozent gewaltfrei – also, warum kippt das in der internationalen Politik manchmal? Der Papst ruft zu Friedensbildung auf, zur Auseinandersetzung mit den Erfahrungen mit aktiver Gewaltfreiheit und deren Methoden… Das wären für mich die Elemente, die da heute hineingehörten.“

Die Fragen stellte Stefan von Kempis

(vatican news - sk)
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

03. April 2023, 13:03