D: Historiker blickt differenziert auf fünf Jahre Aufarbeitung
DOMRADIO.DE: Vor fünf Jahren erschien die MHG-Studie. Sie sind einer der Hauptkoordinatoren einer der Aufarbeitungsstudien, nämlich der für das Bistum Münster mit einem historischen Schwerpunkt. Wie schauen Sie denn auf die vergangenen fünf Jahre zurück, was sich da in Sachen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche getan hat?
Prof. Thomas Großbölting (Historiker an der Universität Hamburg): Ambivalent. Es gibt in den vergangenen fünf Jahren seit 2018 eine große Entwicklung. Die lässt sich wahrscheinlich so beschreiben, dass man auf die Einführung von Präventionsprogrammen schaut und die Schaffung von Strukturen, die sexualisierte Gewalt und den Umgang damit bearbeitbar machen.
Auf diesem Level von politischem institutionellen Umgang hat sich einiges getan. Da hat sich auch in der katholischen Kirche viel mehr getan als in anderen Institutionen, die ebenfalls Anlass dazu hätten.
Ambivalent habe ich aber gesagt und ich habe jetzt zunächst die positiven Aspekte benannt. Ich sehe aber auch große Defizite in der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt. Es ist nicht gelungen, in diesen fünf Jahren einen Zugang zu den betroffenen Männern und Frauen zu finden, aus deren Perspektive Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt vorrangig eigentlich getan werden oder geleistet werden müsste.
Es ist meiner Ansicht nach nicht gelungen, über Kernfragen von kirchlicher Machtverteilung in der Kirche zu sprechen. Und das ist die Grundlage für Machtmissbrauch und damit auch für sexualisierte Gewalt.
Die Idee von der heiligen Institution, die Markierung von Männern als heilige Männer und Priester, ist sozusagen die Pastoralmacht. Diese Macht befähigt im Kern den Täter dazu, Macht gegenüber den Kindern, auf die er zugreift, auszuüben und dann sexualisierte Gewalt auszuüben. Über diese Ermöglichungsbedingungen von sexualisierter Gewalt müsste in der Kirche offensiv geredet werden.
DOMRADIO.DE: Hauptverantwortlich für die Aufarbeitung in den jeweiligen Diözesen sind letztendlich die Bischöfe, auch wenn sie Macht abgeben sollen. Aber sie stehen an der Spitze ihrer Diözesen. Wie wird denn da gemauert? Oder gibt es da Bereitschaft zur Mitarbeit? Was ist Ihre Erfahrung, wenn Sie auf die unterschiedlichen Bistümer schauen?
Großbölting: Ich kann nicht für die unterschiedlichen Bistümer sprechen. Ich kann aus meiner Erfahrung mit dem Bistum Münster berichten. Dort habe ich zunächst 2019 und in den Folgejahren die Studie gemacht. Ich bin mittlerweile Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission, wo ich jetzt aus einer anderen Rolle heraus diesen Zusammenhang bearbeite. Es hat 2019, 2020 und 2021 eine große Unterstützung für die Studie gegeben. Wir sind großzügig und ausreichend mit finanziellen Mitteln und vor allen Dingen mit Zugängen zu den Akten ausgestattet worden.
Ich habe den Eindruck, dass die Stimmung in den vergangenen ein bis zwei Jahren etwas dreht. Da beziehe ich mich nicht nur auf Münster, sondern beobachte das auch bei Kolleginnen und Kollegen in anderen Bistümern. Es gibt mittlerweile einen Überdruss der Beschäftigung mit sexualisierter Gewalt. Dieses Thema stört.
Da kommt hinzu, dass sich mittlerweile auch die Austrittszahlen so darstellen, dass die Kirchensteuermittel entsprechend sinken, dass man auch größere Schwierigkeiten hat, damit umzugehen und dass es auch politisch einen anderen Wind gibt.
Sie kennen den Gegenwind aus Rom. Wie will man mit dem Synodalen Weg umgehen? Was ist die Weltsynode, die sozusagen ja auch als Nebelkerze gegenüber dem Synodalen Weg entsprechend gewirkt hat? Mir scheint, in der innerkirchlichen Lage verändert sich die allgemeine Stimmung gegenüber dem Umgang mit sexualisierter Gewalt und die Türen für dieses Thema werden eher geschlossen als geöffnet.
DOMRADIO.DE: Eine Diözese nach der anderen legt ein eigenes Gutachten vor. Am fünften Jahrestag hat Professor Harald Dreßing, der ja diese MHG-Studie maßgeblich mit betrieben hat, gegenüber DOMRADIO.DE gesagt, dass er damit nicht zufrieden ist, dass jetzt, nachdem die MHG-Studie erschienen ist, jede einzelne Diözese ihr eigenes Gutachten bringt. Er fordert mehr, dass alle 27 Diözesen gemeinsam an dieses Thema gehen. Welche Einstellung haben Sie dazu?
Großbölting: Die Forderung von Harald Dreßing finde ich voll und ganz berechtigt. Wir werden irgendwie dazu kommen müssen, dass wir ein Gesamtbild von der Bedeutung auch von dem empirischen Gehalt sexualisierter Gewalt für die bundesrepublikanische katholische Kirche erstellen können. Darauf bewegen wir uns im Moment nicht zu. Das ist vorneweg gesagt, meine generelle Einstellung dazu.
Die Schwierigkeit besteht natürlich ein wenig darin, dass wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieles ausprobieren. Wir nähern uns diesem Thema mit verschiedenen Methoden und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ich würde beispielsweise gegen Harald Dreßing einwenden, dass wir über unser Aktenstudium etwa ein Drittel mehr Fälle und ein Drittel mehr Täter rekonstruiert haben als in der MHG-Studie.
Ich sage das nicht aus Besserwisserei, sondern um zu zeigen, dass es nötig ist, verschiedene Angänge zu haben, um damit auch wissenschaftlich besser zu werden, um mit diesem Thema umzugehen.
Aber diese Einschränkung trägt überhaupt nicht dazu bei, meinen ersten Punkt zu relativieren. Es ist ganz wichtig, dass wir letztlich Standards entwickeln – wahrscheinlich weniger von der Bischofskonferenz aus, sondern aus der Wissenschaft heraus. Es geht um Standards, wie diese Forschung zu geschehen hat und vor allen Dingen, wie wir das quantitativ miteinander in Beziehung setzen können, um ein Gesamtbild von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche in Deutschland zeichnen zu können.
DOMRADIO.DE: Es steht die Forderung einer Wahrheitskommission im Raum, also dass der Staat intervenieren soll, weil die Kirche mit der Aufarbeitung überfordert sei. Die Ampelkoalition in Berlin zögert wohl etwas damit. Was könnte dahinter stecken, warum die Politik hier nicht interveniert, so wie es vielfach gefordert wird?
Großbölting: Ich glaube, dass die Gründe tatsächlich auf der Hand liegen. Mit diesem Thema gewinnen Sie als Politiker oder als Politikerin nicht. Sie machen in diesem Zusammenhang keine Wählerstimmen gut.
Sie müssen sich auch gegen eine 60-/70-jährige bundesrepublikanische Tradition stellen, nämlich die hinkende Trennung von Kirche und Staat. Was in der Ära Adenauer wunderbar zu beider Gunsten als Win-Win-Situation funktioniert hat, ist jetzt nicht nur aufgrund der Säkularisierung, sondern insbesondere in diesem Skandalfall "sexualisierte Gewalt" absolut disfunktional geworden. Und trotzdem verabschieden sich Politikerinnen und Politiker nicht von diesem Zusammenhang.
DOMRADIO.DE: Was genau sind Ihre Erwartungen an die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche, aber auch in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft an die nächsten fünf Jahre?
Großbölting: Ich habe eine konkrete Erwartung. Da sehe ich mich beispielsweise auch wieder ganz einig mit Harald Dreßing, dem Initiator der MHG-Studie. Es wäre gut, eine sogenannte Dunkelfeld-Studie anzufertigen. Das ist nichts, was ich als Historiker machen kann. Ich bin ein Hellfeld-Forscher. Aber ein Schritt auf dem Weg zu einem Gesamtbild wäre eine für die gesamte Bundesrepublik angelegte Dunkelfeld-Studie.
Ich glaube, dass die Aufarbeitung in den nächsten fünf Jahren weniger ein wissenschaftliches Problem ist. Also das, was wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tun, ist ja im Prinzip Folgendes: Wir erarbeiten Wissen darüber, was in der Vergangenheit an sexualisierter Gewalt geschehen ist. Das ist allenfalls die Basis für eine Aufarbeitung.
Letztlich muss es darum gehen, damit politisch zu arbeiten, sowohl kirchenpolitisch, aber auch allgemeinpolitisch, um mit diesem Thema besser umzugehen. Da habe ich einige Vorstellungen, aber nicht als Wissenschaftler. Vielmehr ist das etwas, was ich denen dazu berufenen verantwortlichen Männern und Frauen in der Politik wie auch in der Kirche überlassen möchte.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.
(domradio - mg)
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