80 Jahre Fokolar-Bewegung: „Wo Brüche sind, da gehen wir hin“
Guddrun Sailer - Vatikanstadt
Die Fokolar-Bewegung gibt es seit 80 Jahren. Was war damals, in den Anfängen, die große Vision Ihrer Gründerin Chiara Lubich und ihrer Gefährtinnen?
Joachim Schwind: Als die Bewegung vor 80 Jahren entstanden ist, war das mitten im Zweiten Weltkrieg 1943. Und ich denke, man kann sagen, dass sie überhaupt keine Vision hatte, schon gar keine große. Denn sie und ihre Freundinnen und Gefährtinnen befanden sich in Trient, einer Stadt, die wegen ihrer Nachschublinien häufig bombardiert wurde. Und sie erlebten zunächst einmal den Zusammenbruch von allem, den Zusammenbruch auch ihrer Visionen, ihrer Zukunftspläne, ihrer Lebensentwürfe. Da war einfach nur Scheitern. Aber eben mitten in diesem Scheitern haben diese jungen Frauen erkannt, entdeckt, erfahren, dass das Einzige, was zählt und was bleibt, Gott ist. Und sie haben sich gesagt: Wenn das so ist, dann haben wir vielleicht noch kurze Zeit zu leben. Also wollen wir Gott zum Ideal unseres Lebens machen. Aus dem Bewusstsein, von diesem Gott unermesslich geliebt zu sein, entstand ihr Wunsch, auf diese Liebe zu antworten.
Antworten – aber wie?
Joachim Schwind: Wie können wir das tun? Haben sie sich gefragt und ihre Antwort war: Wir tun, was er möchte, und was er will, hat er uns in der Heiligen Schrift im Evangelium gesagt. Also schlagen sie dieses Buch auf. Oftmals in irgendwelchen Schutzräumen und Bunkern während der Bombenangriffe, schlagen sie das Evangelium auf, lesen es und versuchen das, was sie lesen und verstehen, hier und jetzt unmittelbar umzusetzen. Was ihnen am meisten ins Auge springt, das sind Worte der Liebe, der Liebe zu den Armen, der Liebe zu den Nächsten, der Liebe auch zu den Feinden, zu den Gegnern, zu denen, die einem nicht wohlgesinnt sind. Und das war der Anfang der Bewegung. Also keine große Vision, sondern eine einfache, unmittelbare, praktische Umsetzung des Wortes Gottes.
Was zeichnet die Fokolar-Bewegung aus, wie würden Sie ihre innerste Berufung heute beschreiben?
Joachim Schwind: Die Fokolar-Bewegung definiert sich eigentlich gerne mit dem Wort Einheit. Sie versteht sich als eine Bewegung der Einheit. Und um das zu erklären, komme ich noch mal zurück auf das, was ich eben gesagt habe. In diesen Momenten, in den Schutzräumen im Bunker, haben die jungen Frauen um Chiara Lubich irgendwann einmal das 17. Kapitel im Johannesevangelium aufgeschlagen. Es ist das Kapitel des sogenannten hohepriesterlichen Gebets oder wie man damals auch sagte, das Testament Jesu, wo Jesus den Vater bittet: Lass alle eins sein. Und sie sagten sich: Wenn das der letzte Wunsch, wenn das das Testament Jesu ist, dann war das das, was ihm am meisten am Herzen lag. Also wollen wir das verwirklichen. Dafür wollen wir leben.
Und wie geht das?
Joachim Schwind: Wir schauen, wo Brüche sind, wo Verwerfungen sind, wo Zerrissenheit ist, wo Spannungen bestehen, wo Uneinigkeit ist. Da gehen wir hin. Und das gilt im Großen, in der Kirche, in der Gesellschaft, unter Gruppierungen. Aber das gilt auch im persönlichen Leben, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Schule: hingehen, wo Spannungen sind, sich in die Spannungen hineinstellen, die Spannungen aushalten, Verbindung schaffen, Dialog führen. Das ist die innerste Berufung der Fokolar-Bewegung von Anfang an, und das ist sie bis heute. Deshalb ist die Bewegung in vielen Bereichen engagiert, aber eben immer da, wo es gilt, Uneinigkeit zu überwinden, Brücken zu bauen, Dialog zu schaffen in der Ökumene, im interreligiösen Dialog, aber auch in gesellschaftlichen Bereichen, unter verschiedenen Gruppierungen und Gemeinschaften, in der Politik.
In der Fokolar-Bewegung ist es so, dass die Präsidentin den Statuten gemäß tatsächlich immer eine Frau sein muss. Inwieweit finden Sie das innerhalb der katholischen Kirche prophetisch?
Joachim Schwind: Wenn ich jetzt sagen würde, dass wir eine neue Rolle der Frau in der Kirche gefunden oder erfunden haben, wäre das, glaube ich, nicht ganz ehrlich. Es ist richtig: In unserem Allgemeinen Statut steht, dass an der Spitze der Bewegung immer eine Frau sein wird als Präsidentin. Und dieses Recht hat Chiara Lubich von Papst Johannes Paul persönlich zugesagt bekommen. Ihr erstes Anliegen, denke ich mal, war zu garantieren, dass die Bewegung der Fokolare, die von Anfang an eine Laienbewegung war, auch wenn in ihr Kleriker mit eingebunden sind und mitmachen, dass sie den Laiencharakter garantieren wollte. Denn die Kirche hat von Anfang an immer wieder einmal vorgeschlagen, dass die Leitungsfunktionen doch von einem Priester übernommen werden sollte. Und um das zu verhindern, hat sich Chiara das Recht erbeten, das immer eine Frau an der Spitze stehen wird. Aber man muss auch sagen, sie nimmt diese Funktion nicht alleine wahr, sondern neben ihr gibt es einen Co-Präsidenten, auch wenn sie als Präsidentin immer das letzte Wort hat.
Die Leitungsfunktion wird aber immer paritätisch wahrgenommen, immer jeweils eine Frau und ein Mann – das ist das Modell der Fokolar-Bewegung?
Joachim Schwind: Ja, das dekliniert sich in unserer Bewegung in allen Leitungsfunktionen durch. Also in allen Leitungsfunktionen haben wir immer eine Frau und ein Mann, die gleichberechtigt paritätisch die Verantwortung wahrnehmen und immer einvernehmlich die Verantwortung wahrnehmen. Meine Aufgabe zum Beispiel ist die, als Mitglied im Generalrat für den inneren Zusammenhalt der Bewegung da zu sein. Und das tue ich gemeinsam mit einer japanischen Kollegin. Wir sind ganz unterschiedlich in unseren Kulturen, in unserer Herkunft. Aber die Aufgabe, die wir haben, können wir nur zusammen wahrnehmen.
Wie erleben Sie das?
Joachim Schwind: Ich erlebe das als einen großen Reichtum und sehe darin das eigentliche Prophetische, die prophetische Dimension, die die Fokolar-Bewegung auch in die Kirche einzubringen hat. Das ist eine neue, eine moderne, eine gemeinschaftliche, eine gleichberechtigte Art und Weise, Verantwortung und Leitung zu übernehmen. Und ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung sagen: Was ich da erfahre und erlebe, das würde ich vielen Leitungsgremien der Kirche wünschen. Natürlich geht das nur mit einer geistlichen Haltung. Es geht nur mit einer Haltung der Offenheit füreinander, mit der Bereitschaft, demütig zuzuhören, Geduld miteinander zu haben, füreinander da zu sein, zurückzustecken, nicht den Konflikt zu suchen, nicht die Selbstbestätigung zu suchen, sondern dem anderen Raum zu geben.
80 Jahre nach der Gründung der Bewegung ist in Europa nach einer langen Friedensphase wieder Krieg. Auch das Heilige Land, aus dem die derzeitige Präsidentin der Fokolar-Bewegung Margaret Karram stammt, ist im Krieg. Was beschäftigt Sie in diesem Zusammenhang als Fokolare?
Joachim Schwind: In der Tat ist die Situation in Europa und besonders auch im Heiligen Land eine, die uns sehr tief trifft. Unsere Präsidentin, wie Sie sagen, als eine Araberin, eine christliche Araberin, die aus dem Heiligen Land stammt, ist so etwas wie der fleischgewordene Konflikt, der sich derzeit im Heiligen Land abspielt. Und ein Stück weit hat sie sich, weil sie viele, viele Jahre im Heiligen Land auch tätig war, für unsere Bewegung dort immer für Frieden und Dialog engagiert. Im Moment scheint das, wofür sie sich eingesetzt hat, sehr weit weg und ihr bisheriges Lebenswerk auch zerstört. Das ist für sie persönlich eine dramatische Herausforderung. Aber es zerreißt sie und uns alle auch deshalb, weil wir als Fokolar-Bewegung in beiden Konfliktparteien Anhänger, Mitglieder, Freunde haben. Das gilt genauso für den Konflikt in der Ukraine. Wir haben Menschen, mit denen wir aufs Innigste verbunden sind, auf beiden Seiten. Das zwingt uns dazu, uns auch in diesen Bruch hinein zu stellen, wie ich das vorhin schon gesagt habe. Spannungen auszuhalten, nicht einfach nur Lösungen anbieten zu können, sondern vielleicht nur den Leuten, mit denen wir in Verbindung sind, nahe zu sein und ihnen zu signalisieren, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben und alles dafür tun, dass auch sie die Hoffnung nicht verlieren.
Die Fokolar-Bewegung ist heute nach eigenen Angaben in mehr als 180 Ländern der Welt vertreten. Ihr Ziel ist, den Geist der Einheit und Geschwisterlichkeit verstärkt in Kirche und Gesellschaft und in alle Bereiche des menschlichen Lebens hinein zu tragen. Menschen auch ohne einen religiösen Bezug finden Zugang durch den gemeinsamen Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Weltweit zählt die Fokolar-Bewegung heute an die 140.000 Mitglieder, nach Schätzungen der Gemeinschaft fühlen sich ihr darüber hinaus zwei Millionen Menschen verbunden.
(vatican news - gs)
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